Ruslan Stefantschuk, Präsident der Werchowna Rada der Ukraine

Wenn die Ukraine am 24. Juni kein „Ja“ von der EU bekommt, wird Putin diese Botschaft bekommen

Die Ukraine hofft, ein „Ja“ zu hören und schon im Juni den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erhalten. Vom 23. bis 24. Juni findet in Brüssel eine Sitzung des Europäischen Rates statt, bei der unter anderem die Schlussfolgerungen der Europäischen Kommission zum gestellten Antrag der Ukraine auf EU-Mitgliedschaft behandelt werden und die Entscheidung über die Gewährung ihr des Status eines Kandidaten getroffen werden soll.

Doch trotz der starken Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen den Aggressor gibt es Länder, die immer noch zögern, der Ukraine den Kandidatenstatus zu gewähren. Deshalb unternimmt die Ukraine an allen Fronten alle Anstrengungen, um Skeptiker von der Notwendigkeit zu überzeugen, sie zu einem Kandidaten zu machen.

In Den Haag sprach die Korrespondentin von Ukrinform mit dem Präsidenten der Werchowna Rada der Ukraine, Ruslan Stefantschuk, der während seines großen Arbeitsbesuchs in der EU die europäischen Kollegen aufforderte, der Ukraine den Kandidatenstatus zu gewähren.

Wie viele Länder haben Sie bereits besucht und was sind die wichtigsten Botschaften?

Der große Arbeitsbesuch besteht darin, dass ich reise und mit meinen Parlamentskollegen spreche, um den Hauptgedanken zu vermitteln: Die Ukraine ist Europa, und die Ukraine möchte einen rechtlichen Ausgangspunkt für ihren Weg in die EU bekommen. Dieser Punkt ist die Entscheidung, der Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu gewähren. Meine Kollegen und ich hatten bereits sehr wichtige und produktive Treffen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden. Auch in Brüssel. Der Endpunkt dieses Arbeitsbesuchs ist Österreich. Ich bin hier, um erstens den Menschen zu danken, die die Ukraine unterstützen, und zweitens, um mit Skeptikern zu sprechen, ehrlich über ihre Fragen zu sprechen, und es hat sich herausgestellt, es gibt viele Fragen. Ich habe auf alle Fragen ehrlich geantwortet. Dies waren insbesondere Fragen darüber, ob wir verstehen, dass der Kandidatenstatus keine Mitgliedschaft bedeutet und dass noch ein langer Weg vor uns liegt. Ich versicherte, dass wir alles verstehen und dazu bereit sind. In Deutschland interessierte alle das Schicksal des Balkans. Meine Antwort war, dass wir nicht gegen jegliche Prozesse sind, aber sie sollten nicht als sich gegenseitig ausschließend wahrgenommen werden. Jeder hat seine eigene Spur, und jeder muss dieser Spur folgen.

Sie sagten über Skeptiker. Um welche Länder geht es? Wer kann „Nein“ der Ukraine sagen?

Ich kann jetzt nicht sagen, welche Länder konkret, denn es wäre nicht richtig. Aber es gibt Staaten, die zögern, man muss einfach mit ihnen reden. Ich habe bereits mehrere Länder bereist, und ich habe nicht irgendeine Vorstellung, dass einer von ihnen ein ausgesprochener Skeptiker ist, weil für die Ukraine im Kampf gegen die russische Aggression eine starke Unterstützung bekundet wird. Aber es ist auch sehr wichtig, dass die EU-Länder „Ja“ zum Kandidatenstatus sagen.

Warum fällt es den europäischen Ländern schwer, Entscheidungen zu treffen? Wie überzeugen Sie sie?

Heute unterstützen 91 Prozent der Ukrainer den Weg der Ukraine in die EU. Und es ist sehr wichtig, dass 66 Prozent der Europäer auch die Bewegung der Ukraine zur EU unterstützen. Wir machen jetzt eine sehr große und starke Arbeit in Europa. Sie besteht darin, nicht nur diejenigen zu überzeugen, die Zweifel haben, sondern auch darin, die Kollegen, die die Ukraine zu 100 Prozent unterstützen, zu bitten, sich einer solchen Mission anzuschließen, zu überzeugen, die Gewährung der Ukraine eines EU-Kandidatenstatus zu unterstützen.

2016 hat in den Niederlanden ein Referendum zum Assoziierungsabkommen stattgefunden. Damals gab es anti-ukrainische Stimmungen. Wie haben die Niederlande Sie heute empfangen? Wie hat sich das Land Ihrer Meinung nach verändert?

Ich habe die Kommunikation mit den Niederländern nicht mit 2016 angefangen. Ich erinnere sie daran, dass es vor ein paar Tagen 10 Jahre waren, als die Euro 2012 begonnen hat, und wir erinnern uns gut daran, wie die niederländische Nationalmannschaft damals in Charkiw war. Ich erinnere mich, wie wir alle zusammen feierten, Lieder sangen, die Holländer unterstützten, wir waren zusammen dort. Heute existiert dieses Charkiw nicht mehr.

Ich erinnere sie daran, dass uns auch andere unangenehme Dinge wie MH17 vereinten. Und wir helfen ehrlich bei der Untersuchung. Wir tun alles, um die Gerechtigkeit herzustellen.

Wir schauen nicht auf 2016. Wir gehen weiter und sehen die Unterstützung der Ukraine in den Niederlanden: 62 Prozent sind damit einverstanden, dass die Ukraine der EU beitreten sollte, sobald sie dazu bereit ist. Spazieren Sie einfach durch die Straßen der Niederlande, überall hängen ukrainische Flaggen. Noch nie hat es eine solche Unterstützung für die Ukraine gegeben. Dazu erinnern Sie sich auch an die Ergebnisse der Eurovision-Abstimmung, wenn die Jury uns null gibt und die Leute 12. Für uns sind die Beziehungen „Volk mit Volk“ sehr wichtig. Und wir als Vertreter der Staatsgewalt müssen die Erwartungen der Menschen erfüllen. Denn wenn es nicht so ist, dann sind wir keine Vertreter unseres Volkes. Und deshalb möchte ich sehr, dass sie auf das hören, was das Volk sagt.

Ich habe mit den Kollegen gesprochen und gesagt: Wenn Sie die Antwort darauf haben wollen, ob die Ukraine es verdient hat, in der Europäischen Union zu sein, fragen Sie vor allem Ihre Unternehmen, ob sie einen 45-Millionen-Markt in der Ukraine bekommen wollen. Fragen Sie Ihre Landwirte, ob sie gemeinsam mit Ukrainern ökologisch saubere Produkte produzieren und mit Ukrainern auf dem offenen Bodenmarkt in der Ukraine zusammenarbeiten wollen. Wir müssen so handeln, wie es unsere Völker wollen. Die Niederlande werden von der Gewährung des EU-Kandidatenstatus nur profitieren.

Nach einem Treffen in Den Haag mit Mitgliedern der Zweiten Kammer der Generalstaaten und des Senats des niederländischen Parlaments hat das Mitglied der Zweiten Kammer der Generalstaaten, Ruben Brekelmans (VVD - Volkspartei für Freiheit und Demokratie), in seinem Twitter auf Ihren Post in Bezug auf „Ja“ von den Niederlanden reagiert. Er schrieb, dass die Unterstützung für den Kandidatenstatus der EU die politischen Parteien bekundet haben, die weniger als 30 Prozent des niederländischen Parlaments vertreten. Wie unterscheidet sich die Unterstützung des Volkes von den Stimmungen der politischen Kräfte?

Während dieses Treffens herrschte eine Atmosphäre einer allseitigen Unterstützung für die Ukraine, die mich zu einer so emotionalen Reaktion veranlasste. Unsere Aufgabe ist es, mehr als 50 Prozent zu erreichen. Wir arbeiten dafür, wir kommunizieren, wir treffen uns, um alle Fragen zu lösen. Ich hoffe, dass die Ukraine neben der starken Unterstützung der Europäischen Union im Kampf gegen die russische Aggression beim Gipfeltreffen des Europäischen Rates auch ein positives Signal über den Status eines EU-Kandidaten erhält.

Erzählen Sie uns von den Vorteilen der Gewährung der Ukraine des Status eines Kandidaten für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Wir reden darüber, dass der Status eines Kandidaten es uns ermöglicht, eine vertiefte Zusammenarbeit zu beginnen. Heute ist die Ukraine eine mächtige Armee, vielleicht eine der mächtigsten in Europa und möglicherweise der Welt. Territorial und geografisch ist die Ukraine ein sehr guter Korridor für Logistikrouten. Und wir sind bereit, all diese Dinge zu behandeln, die damit verbunden sind, die Ukraine zu einem solchen Transformationshub zu machen.

Es geht auch um den Wiederaufbau und die Rekonstruktion der Ukraine. Dies kann ein einzigartiges Projekt werden, denn heute weiß jeder, wo die Ukraine liegt, und alle Aufmerksamkeit richtet sich auf die Ukraine, die ein Symbol für Mut und Geistesstärke ist.

Plus unsere IT-Technologien. Ich traf mich mit dem Vizepräsidenten von Philips, zeigte unsere „Dija“ („Dija“ - ukrainische App für staatliche Dienstleistungen, die vom Ministerium für digitale Transformation der Ukraine entwickelt wurde) und erzählte, wie wir unsere Kräfte im Gesundheitssystem vereinen können, weil sie sich gerade auf medizinische Entwicklungen spezialisieren und bereit sind, mit dem Business zu verhandeln.

Die Ukraine hat Europa in Sachen Wirtschafts- und Humankapital etwas zu bieten. Und sie sehen das, denn heute haben die 6 Millionen Ukrainer, die nach Europa gegangen sind, gezeigt, dass sie Europäer sind, hochgebildete, kultivierte, gebildete Menschen, die Europa stärken können.

Welchen Einfluss hat Russland auf EU-Länder?

Natürlich ist er da, und ich erkläre das bei jedem Treffen. Ich sage: Wenn Sie glauben, Sie befinden sich noch nicht im Krieg, dann ist er bereits da, nur Russland führt heute einen ganz anderen Krieg. Er injiziert zuerst einen Stachel der Propaganda, geht ins Gehirn, dann injiziert einen finanziellen Stachel und setzt Energieressourcen, Wirtschaftsumwege und so weiter auf die Nadel, wodurch Ihre Prinzipien zerstört werden. Dann injiziert er eine politische Nadel. Er findet Parteien, Gruppen, durch die er finanziert und die Kontrolle über dich erlangt, und erst die dritte Etappe ist die Etappe der umfassenden Invasion. Du wirst nie wissen, wann die dritte Stufe kommt. Und das muss bewusst werden.

Funktionieren die verhängten Sanktionen?

Sanktionen, die irgendwelche Ausnahmen oder Umgehungsvarianten vorsehen, reichen nicht aus. Wenn wir über Sanktionen sprechen, sollte es keine Ausnahmen geben. Als wir anfingen, über SWIFT zu sprechen, sollte man gegen das gesamte Bankensystem vorgehen, und nicht gegen einige Banken. Wenn wir über das Energieembargo sprechen, sollte es ein vollständiges Embargo gegen alle Energieträger sein, und nicht zuerst separat gegen Öl, dann separat gegen Gas, separat gegen Kohle. Der Krieg mit Russland und der Sanktionsdruck sollten keine Homöopathie sein, sondern Chirurgie. Wir müssen abschneiden und ein Ende setzen. Ich verstehe, dass es schwierig ist, aber der Preis in der Zukunft, im Falle, Gott bewahre, der Niederlage, wird katastrophal hoch für die ganze Welt sein.

Wenn wir über Personensanktionen sprechen, muss man klar sagen, dass die Russen die EU innerhalb von 48 Stunden verlassen müssen, und das wird richtig sein. Ihre Kinder sollten nicht in europäischen Eliteschulen lernen, sondern in Sysran und Rjasan, denn ihr baut jene Welt und ihr müsst ehrlich sein. Heute muss es weltweit giftig sein, Verbindungen zur russischen Elite zu haben, und nur dann können wir sagen, dass die Sanktionen vollständig wirken.

Ist es möglich, sich mit Russland auf einen Frieden zu einigen?

Jeder Krieg endet entweder mit einem Sieg oder einer Kapitulation oder einem Friedensvertrag. Zweifellos gibt es bestimmte Verhandlungsvarianten, ich habe die roten Linien schon millionenfach betont. Es gibt drei rote Linien, die die Ukraine bei keinen Verhandlungen überschreiten wird. Dies sind die Unabhängigkeit, die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine. Diese drei Fragen können nicht Thema der Diskussionen sein. Außerdem möchte ich betonen, dass mit jedem solchen Mariupol, Butscha, Irpin der Korridor für Verhandlungen enger wird.

Welche Länder wollen die Rolle des Verhandlungsvermittlers spielen?

Es gibt viele Länder, die die Rolle von Unterhändlern spielen wollen, und das sehen wir an ihren Erklärungen, und das ist der richtige Wunsch, den Krieg zu beenden. Aber bei drei grundlegenden Dingen kann es keine Verhandlungen geben. Und die Ukraine muss, wenn sie Verhandlungen aufnimmt, starke Garantien für ihre Sicherheit erhalten. Es sollte nicht das Budapester Memorandum sein, es sollten konkrete Handlungen sein, die klar besagen werden, dass sich alle diese Länder im Falle einer Aggression zur Verteidigung der Ukraine stellen werden. Nur dann verstehen wir diese Garantien. Ist dies nicht der Fall, dann sind diese Verhandlungen über nichts.

Versteht Europa, dass man sich mit Russland nur aus einer Position der Stärke einigen kann?

Ich denke, dass es das schon viel mehr versteht, als vor dem 24.02.2022. Denn bis zu diesem Tag gab es irgendeine allgemeine Vision, dass man sich auf alles einigen kann. Das können wir nicht, denn die Abkommen mit Russland sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Ich zitiere Bismarck, und das wird von allem bestätigt, weil Russland gegen alle möglichen Vereinbarungen verstoßen hat, die geschlossen wurden.

Welche Erwartungen haben Sie vom 24. Juni?

Ich habe nur eine Erwartung: Europa muss „Ja“ sagen. Europa muss dem ukrainischen Volk einen starken Impuls senden, einen starken Impuls an ukrainische Soldaten an der Front, dass alles, wofür das ukrainische Volk heute leidet, nicht umsonst ist. Ich sage offen: Wenn die Ukrainer dieses Signal nicht erhalten, wird das Signal an Russland gehen, dass Europa nicht geeint ist, Europa die Ukraine nicht unterstützt. Und dann wird Putin zu 100 Prozent weiter gehen, die Schwachen bedrängen und zermalmen. Und das müssen wir alle verstehen. Und wenn jemand denkt, dass er territorial weit ist, dann, glauben Sie mir, das ist eine Pandemie. Und jeder Krieg ist eine Pandemie, niemand wird ihn mit der Grenze aufhalten. Und jetzt sind die Ukrainer der Impfstoff gegen diese Pandemie. Heute verteidigen wir Europa auf Kosten unserer Leute, unserer Territorien, unseres Lebens, zerbrochener Familien und verkrüppelter Schicksale. Das ist der Preis für ein ruhiges und erfülltes Europa heute. Und daran sollte erinnert werden, denn man fängt an zu reden, dass man von der Ukraine müde ist. Heute ist man in der Ukraine davon sehr müde, dass sie einen zermürbenden Krieg führt und den friedlichen Schlaf aller verteidigt. Wenn wir diese Botschaft am 24. Juni nicht erhalten, wird Putin sie erhalten. Er wird verstehen, dass er jetzt ungestraft weitermachen kann. Ich bitte Sie, alles zu tun, damit der 24. Juni zu einem Wendepunkt und unserem großen gemeinsamen Sieg wird.

Was ist Ihre Formel für den Sieg?

Für mich gibt es einen absoluten Begriff des Sieges - die Wiedererlangung der Gebiete der Ukraine zum Stand vom 24. August 1991, zum Zeitpunkt der Erklärung der Unabhängigkeit; Bestrafung der Schuldigen und Entschädigung des von der Russischen Föderation verursachten Schadens. Das ist für mich die Formel des Sieges.

Iryna Drabok, Den Haag

Foto: Iryna Drabok, Twitter / Ruslan Stefanchuk, Alain ROLLAND

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