Ungebrochene Wira aus Dementijiwka
Die 76-jährige Wira Tschernucha kehrte nach der Besetzung, Verletzung und Behandlung in der Russischen Föderation über Europa in ihr zerstörtes Dorf zurück
Dementijiwka, der Rajon Charkiw, liegt fünf Kilometer von der russischen Grenze entfernt, zwischen zwei Autobahnen: Derhatschi–Kosatscha Lopan und Charkiw–Belgorod. Die auf einem Hügel gelegene Siedlung war im späten Frühjahr und im Sommer 2022 Schauplatz schwerer Kämpfe. Das Verteidigungsministerium verkündete am 18. Mai letzten Jahres die Befreiung des Dorfes, doch im Juli mussten sich die ukrainischen Streitkräfte zurückziehen. Heute leben in Dementijiwka nur noch zwei Menschen und ein paar streunende Tiere.
OHNE HAUS, STROM UND NACHBARN
Vor der Invasion lebten nicht mehr als 35 Menschen in dem Dorf, einige von ihnen als Sommergäste. Die Gegend hier ist wunderschön: hügelig, mit einem Wald auf der einen Seite, der reich an Pilzen war.
Im September 2022 gelang es den ukrainischen Streitkräften in einer groß angelegten Gegenoffensive, die Besatzer aus Dementijiwka zu vertreiben. Jetzt ist der Anblick des Dorfes schmerzhaft: Zerstörte Häuser sind im Dickicht begraben, gebrochene Drähte hängen von den überlebenden Strommasten, Risse und Löcher im Asphalt sind mit Unkraut überwuchert. Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man hier spazieren geht: Die Siedlung wurde nur teilweise entmint.
„Wir sind dreimal befreit worden“, sagt Wira Tschernucha, eine Bewohnerin des Dorfes, die wir auf dem Weg zum Brunnen trafen.
Im Keller von Wiras Haus, das völlig zerstört wurde, und im Keller auf dem Hof versteckten sich die Besatzer und das ukrainische Militär. Nicht weit vom Hof entfernt, auf einem Hügel, steht ein Denkmal, das der staatliche Grenzschutzdienst der Ukraine zum Gedenken an die Grenzsoldaten errichtet hat, die in dem Dorf einen Kampfeinsatz hatten und dabei leider ums Leben kamen.
„Kürzlich habe ich es wieder gemäht, damit es nicht zuwächst“, sagt die Frau. „Ich wollte Blumen pflanzen, aber als die Grenzsoldaten gekommen sind, haben sie gesagt, das sei im Moment nicht nötig, weil sie das Denkmal auf eine Platte stellen würden. Also habe ich einen Strauß aus dem Blumenbeet geholt und ihn für unsere Jungs gebracht ... Hätte ich nur noch ein paar Rosen übrig“.
Die Rosen überlebten die Feindseligkeiten nicht, ebenso wenig wie Obstbäume und Sträucher. Die Frau erzählt uns, wie ihr Haushalt aussah, bevor die Russen kamen. Sie zeigt die Ruinen des Hauses, die leeren Stellen, die von einer Scheune, einem Heuboden und einem Garten übriggeblieben sind.
Wira lebt in einer Sommerküche und kocht mit einer Gasflasche. Die Verwaltung der Derhatschi Gemeinde gab ihr einen Generator, und noch früher einen Kanonenofen. Sie musste alle Haushaltsgegenstände kaufen: Töpfe, Pfannen usw., denn nach den Besetzern war nichts vorhanden. Wira lebt seit 1999 in Dementijiwka und hat das Haus gemeinsam mit ihrem Mann aufgebaut, der ein Jahr vor dem großen Krieg starb.
Sie erzählt, dass ihr Sohn und seine Familie am Tag der Invasion versuchten, sie mitzunehmen.
„Sie waren auf dem Weg, und die Panzer waren bereits in Richtung Charkiw unterwegs, die Fahrzeuge der Russen sind auf der Umgehungsstraße gefahren. Man hätte sie vielleicht in den Dorf durchlassen können, aber nicht aus dem Dorf, um zurück zu fahren. Sie waren mit einem kleinen Kind unterwegs. Ich habe sie angerufen, da gab es noch ein Mobilfunk, und ihnen gesagt: ,Nein, ihr müsst selbst gehen! Was mich betrifft, habe ich, Gott sei dank, mein Leben schon gelebt‘.
Mein Nachbar Sasha und ich haben den ersten Beschuss gemeinsam überlebt. Wir haben sogar Brechstangen und Schaufeln in den Keller geworfen, falls er einstürzt. Und dann haben wir gedacht: ,Wie kommen wir da selbst wieder raus, wenn der Beschuss kommt?‘ Wir haben beschlossen, im Haus zu bleiben, zwischen den Mauern. Wir haben zusammen gegessen und alles geteilt, was wir hatten. Wir haben auch gemeinsam Kartoffeln gepflanzt. Obwohl uns klar war, dass wir sie wahrscheinlich nicht ausgraben mussten“, sagt die Rentnerin.
Schon in den ersten Tagen begannen die Besetzer, den Bewohner ihr Hab und Gut wegzunehmen. Im Haus von Wira befanden sich zwei Gewehre und Munition, die von ihrem Mann, einem Jäger, übriggeblieben waren.
„Ich habe aus dem Fenster geschaut und gesehen, wie fünf maskierte Männer mit einem Gewehr in der Hand hereinkamen. Ich bin auf den Boden gefallen“, sagt Wira. „Und sie haben an die Tür gehämmert. Ich habe sie geöffnet. Sie sind durch das Haus gerannt und die Treppe hinaufgestiegen. Die Waffe war hinter der Tür, sie haben sie nicht einmal gesehen. Ich habe sie später vergraben“.
Die Angreifer nahmen sofort das Tablet der Frau und die SIM-Karten von zwei Handys mit. Sie fragten immer wieder, warum das Rohr im Hof gelb und blau gestrichen sei.
„Ich habe es ihnen erklärt: „Ich lebe in der Ukraine. Ich mache in meinem Garten, was ich will‘“, sagt die Rentnerin.
Sie erinnert sich auch daran, dass die Besetzer ihr oft verboten, zu kochen, weil sie Angst hatten, dass eine Rauchsäule zu sehen sein könnte.
„Sie haben gesagt, dass Terechow (der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, – Anm. d. Red.) bereits geflohen sei und dass sie am 9. Mai den Tag des Sieges in der Stadt feiern würden. Aber ich habe geantwortet: ,Wir wissen noch nicht, was und wo ihr feiern werdet‘’, erzählt Wira. „Einige von ihnen konnten sich nicht einmal an den Namen unseres Dorfes erinnern und ihn aussprechen“. Es war überhaupt nicht auf ihren Landkarten verzeichnet.
Tschernucha zufolge freuten sich die meisten ihrer Dorfbewohner über die Ankunft der „russischen Welt“. Die Frau erklärt dies damit, dass die Menschen russische Wurzeln oder Verwandte in Russland haben und russisches Fernsehen sehen. Jetzt befinden sich diese ehemaligen Bewohner von Dementijiwka wahrscheinlich auf dem Gebiet des Landes, das sie so lieben.
SIE WACHTE NACH EINER VERWUNDUNG IN EINEM KRANKENHAUS IN BELGOROD AUF
Anfang Mai letzten Jahres wurde Frau Tschernucha verletzt, als durch den Beschuss die Küchentür gesprengt wurde und ein Granatsplitter ihr Bein traf.
„Ich bin nach der Narkose im Krankenhaus aufgewacht. Ich habe die Frau im Nachbarbett gefragt: ,Wo bin ich?‘ Sie hat geantwortet: ,In Belgorod‘. Ach, mein Gott! Ich bin nackt, hilflos ... Ich schaue auf meine Hände: Sie sind schmutzig und blutig. Ich habe darum gebeten, dass man mir etwas zum Abtrocken und Abwaschen gibt. In den ersten Tagen war es psychisch sehr schwierig für mich. Ich habe mich gegen die Tatsache gewehrt, dass ich in Russland war. Das hat das Personal wütend gemacht. Dann habe ich verstanden, dass es besser ist, zu schweigen So ist ein Monat vergangen. Kurz vor meiner Entlassung hat man mir gesagt, ich würde nach Rostow in ein Flüchtlingslager geschickt. Und ich habe geantwortet, dass ich nur in die Ukraine gehen müsse. Ich hatte nur Glück, dass meine Schwiegertochter mich durch Freiwillige gefunden hat. Sie und mein Sohn haben mir Geld überwiesen, ein Telefon und alles, was ich brauche, gekauft. Sie haben eine Reise nach Europa organisiert. Ich bin dem Arzt dankbar: Er ist Ukrainer, er hat mich gut behandelt und meine Entlassung einen Tag lang hinausgezögert, und alles hat geklappt“, sagt die Frau.
In sieben Tagen verließ die Rentnerin Russland und durchquerte Lettland, Litauen und Polen. Sie erreichte Lwiw und besuchte dann ihre Kinder und Enkelkinder in Winnyzja.
Am 14. Oktober letzten Jahres, einen Monat nach Beginn der Gegenoffensive in der Region Charkiw, beschloss sie, nach Dementijiwka zu kommen.
„Wenn ich nicht vorher ein Medikament, ein Beruhigungsmittel, genommen hätte, wäre ich wahrscheinlich direkt vor dem Tor gestorben. Als du es Stein für Stein gebaut hast ... Mein Mann und ich hatten einen großen Bauernhof: eine Kuh, Schweine, Gänse, Enten, und wir haben das Haus mit diesem Geld gebaut. Alles ist kaputt.
Seit dem 8. Mai dieses Jahres lebt Wira in dem Dorf. Sie sagt, sie sei jeden Tag um vier Uhr morgens aufgestanden und habe einen Plan gehabt: wie viele Schubkarren Müll sie wegbringen muss, welchen Schutt sie wegräumen muss, wo sie einen ganzen Ziegelstein findet, welche Art von Loch im Garten zu füllen ist, wo sie das Unkraut bekämpfen muss.
„ICH KOMME IM FRÜHJAHR ZURÜCK, UM EINEN GARTEN ANZULEGEN“
Manchmal muss die Frau Plünderer verjagen.
„Ich habe gerade draußen gearbeitet, als ich ein Auto mit einem Schild gesehen habe, auf dem ,Freiwillige‘ geschrieben war. Es war mit einem Anhänger. Es hat in der Nähe des Hofes eines Nachbarn angehalten, zwei Männer sind ausgestiegen, haben sich umgesehen und darüber diskutiert, was sie mitnehmen könnten. Sie haben mich nicht gesehen. Ich habe gesprungen und sie beschimpft! Ich habe noch nie solche Schimpfwörter verwendet. Sie waren verblüfft. Und sind weggelaufen. Später habe ich gedacht: ,Was habe ich nur gemacht?‘ Sie können mich umbringen. Die Polizei kommt von Zeit zu Zeit in unserem Viertel vorbei. Aber in den letzten Wochen war keine mehr da“, sagt sie.
Mitte Oktober wird Tschernucha für den Winter nach Charkiw fahren.
„Mein Sohn und meine Schwiegertochter wissen nicht, wie viele Konserven ich schon gemacht habe! Sie haben mir gesagt, ich solle mich nicht so anstrengen, ich bräuchte diese Konserven nicht. Aber wie kann ich ohne sie leben? Ist schon gut, ich nehmen sie mit. Es ist ein großes Auto“, lächelt Wira.
Sie fügt hinzu, dass sie, wenn sie einen funktionierenden Ofen hätte, auf jeden Fall im Dorf bleiben würde.
„Die Küche ist auch durchgeschüttelt worden, man kann die Risse sehen. Der Ofen war beschädigt, ich habe ihn selbst mit Ziegeln und Kitt repariert und ihn gereinigt. Aber der Rauch kommt aus dem Schornstein und in den Raum“, sagt sie. „Ich brauche einen guten Ofenbauer. Aber wo kann ich einen finden, der hierherkommt? Im Frühling aber, wenn es wärmer wird und ich nicht sterbe, komme ich zurück, um einen Garten anzulegen. Ich kaufe auch Hühner oder Enten“.
Julija Bajratschna, Charkiw–Dementijiwka
Fotos von Wjatscheslaw Madijewskyj