Sergiy Kyslytsya, UN-Botschafter der Ukraine:

Treffen von Generalsekretär mit Person, gegen die ein IStGH-Haftbefehl vorliegt, ist nur in Ausnahmefällen möglich

Eine Reise des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Antonio Guterres zum Gipfeltreffen der BRICS-Staaten im russischen Kasan sorgte für heftige Kritik der Ukraine und ihrer Partner. Die Vertreter von Guterres rechtfertigen seinen Besuch mit der Wichtigkeit des Gipfels, weil die Teilnehmerstaaten die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren. Außerdem wird betont, dass Guterres im Gespräch mit Putin angeblich seine Meinung zur russischen Aggression zum Ausdruck brachte. Wie berechtigt war die Reise des UN- Generalsekretärs in den Aggressorstaat und sein Treffen mit dem Kriegsverbrecher? Darüber sprechen wir mit dem Ständigen Vertreter der Ukraine bei den Vereinten Nationen Sergiy Kyslytsya.

Herr Kyslytsya, es gibt viele Erklärungen und Kommentare sowohl hier als auch in New York bezüglich der moralischen, rechtlichen und politischen Aspekten der Entscheidung des UN-Generalsekretärs, auf Einladung des Kriegsverbrechers Putin zur Teilnahme am Bricks-Gipfel nach Russland zu reisen. Reglementiert die UNO diese Frage?

Ja, diese Frage stellt sich nicht zum ersten Mal.

Vor 20 Jahren schloss die UNO ein Kooperationsabkommen mit dem Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ab. Am 13. September billigte es die Generalversammlung. 

Gemäß dem Abkommen erließ der UN-Generalsekretär 2013 Leitlinien, die jeden möglichen Kontakt eines Vertreters des UN-Sekretariats zu einer Person, gegen die ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs ergangen ist, regeln.

Die Leitlinien wurden in einem Schreiben des Generalsekretärs an den Präsidenten der Generalversammlung und an den Vorsitzenden des Sicherheitsrates dargelegt. Es heißt dort: „Es ist davon auszugehen, dass Personen, gegen die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs erlassen wurden, gezielt versuchen könnten, sich mit Beamten der Vereinten Nationen zu treffen, um ihre Verachtung für den Gerichtshof zu demonstrieren und seine Autorität zu untergraben. Obwohl die Vereinten Nationen und der Internationale Strafgerichtshof getrennte Organisationen mit jeweils eigenem Mandat sind, haben beide Organisationen das gemeinsame Ziel, der Straflosigkeit für die schwersten Verbrechen von internationalem Interesse ein Ende zu setzen. Darüber hinaus verpflichtet das Kooperationsabkommen zwischen den Vereinten Nationen und dem Internationalen Strafgerichtshof die Vereinten Nationen, alle Handlungen zu unterlassen, die die Aktivitäten des Gerichtshofs und seiner verschiedenen Organe, einschließlich des Anklägers, behindern oder die Autorität ihrer Entscheidungen untergraben würden.“

Wie wir sehen können, handelte Putin auf diese Weise, als er eine Einladung an den UN-Generalsekretär zur Teilnahme am BRICS-Gipfel in Russland schickte.

Die allgemeine Regel lautet, dass es keine Kontakte zwischen den UN-Beamten und Personen, gegen die ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs ergangen ist, stattfinden dürfen.

Feierliche Zeremonien mit diesen Personen dürfen nicht abgehalten werden, übliche Höflichkeitsbesuche zu ihnen sollten vermieden werden. Dasselbe betrifft auch Empfänge, Fototermine, Teilnahme an nationalen Feierlichkeiten usw.

Nach den Leitlinien dürfen der Generalsekretär und seine Stellvertreter von Zeit zu Zeit wichtig sein, direkten Kontakt mit einer solchen Person aufzunehmen, um „grundlegende Fragen zu klären“, die die Fähigkeit der Vereinten Nationen und ihrer verschiedenen Büros, Programme und Fonds zur Durchführung ihrer Mandate in dem betreffenden Land beeinträchtigen, darunter auch lebenswichtige Sicherheitsfragen.

Der UN-Generalsekretär darf sich aber mit Vorsitzenden der Organisationen wie z.B. die GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien) oder die SCO (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) treffen?

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete entsprechende Resolutionen über die Zusammenarbeit der UNO mit der GUAM und der SCO.

Mir ist jedoch nicht bekannt, dass es eine solche Resolution über die Zusammenarbeit zwischen der UNO und den BRCS-Staaten gibt.

Wenn es sich um die SCO handelt, heißt es in der Resolution vom 1. September 2023: Die Generalversammlung „unterstreicht, wie wichtig es ist, den Dialog, die Zusammenarbeit und die Koordinierung zwischen dem System der Vereinten Nationen und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit zu stärken, und schlägt dem Generalsekretär vor, zu diesem Zweck mit dem Generalsekretär der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit weiterhin regelmäßige Konsultationen im Rahmen der bestehenden interinstitutionellen Foren und Formate zu führen“. In der Resolution zur Zusammenarbeit mit der GUAM vom 21. November 2022 heißt es, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen wird vorgeschlagen, regelmäßige Konsultationen mit dem Generalsekretär der GUAM zu führen und dafür die entsprechenden interinstitutionellen Foren und Formate zu nutzen, einschließlich der jährlichen Konsultationen zwischen dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und den Leitern der Regionalorganisationen“.

Weder der Sicherheitsrat noch die Generalsversammlung der UNO beauftragten den Generalsekretär zur Zusammenarbeit mit der BRICS-Gruppe, ganz zu schweigen davon, die Einladung von einer Person anzunehmen, gegen die ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs ergangen ist.

Die Leitlinien besagen klar, dass wenn Kontakte unbedingt erforderlich sind, sollte versucht werden, wo möglich, mit Personen in Kontakt zu treten, gegen die kein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt.

Begründete das Büro des Generalsekretärs die Notwendigkeit des Treffens mit dem Kriegsverbrecher?

Wie erwarten von der UNO klare Angaben zu „grundlegenden Fragen“, die auf dem BRICS-Gipfel mit der Person, gegen die ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt, gelöst werden sollten. Ich wiederhole noch einmal. Es geht um die Fragen, die die „Fähigkeit der Vereinten Nationen und ihrer verschiedenen Büros, Programme und Fonds zur Durchführung ihrer Mandate in dem betreffenden Land beeinträchtigen, darunter auch lebenswichtige Sicherheitsfragen“.

Aus dem, was ein stellvertretender Sprecher des Generalsekretärs bis heute sagte, habe ich eine Antwort auf diese Frage nicht gehört. Auf die Frage von Journalisten antwortete er, dass der Generalsekretär am BRICS-Gipfeltreffen teilnimmt, um eine Reihe von bilateralen Treffen mit Staats- und Regierungschefs, die den Gipfel besuchen, durchzuführen, darunter auch mit dem Ziel, die sichere Schifffahrt im Schwarzen Meer wiederherzustellen. Es ist aber bekannt, dass die Schwarzmeer-Getreide-Initiative seit mehr als einem Jahr nicht mehr funktioniert.

Zwei von bilateralen Treffen, die der stellvertretende Sprecher erwähnte, waren mit den Diktatoren Putin und Lukaschenko.

Und wenn der Generalsekretär eine Person treffen will, gegen die ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegt, gibt es ein Verfahren zur Informierung des Strafgerichtshofs? (Übrigens, am Tag, an dem wir mit dem Botschafter sprachen, hinterlegte die Ukraine bei der Vereinten Nationen die Ratifikationsurkunde zum Beitritt zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs).

Ja, ein Handbuch zur Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof von 2016 beschreibt das Verfahren zur Informierung des IStGH über wichtige Kontakte. Nach dem Verfahren musste der Bereich Rechtsangelegenheiten der UNO vorher per Schreiben den Chefankläger des Strafgerichtshofes und die Versammlung der Vertragsstaaten des Rom-Statuts über das Treffen mit einer Person, gegen die ein Haftbefehl vorliegt, in Kenntnis setzen und Gründe zu diesem Treffen nennen. Es wird interessant sein, dieses Schreiben zu sehen.

Wolodymyr Iltschenko, New York