Mykola Totschyzkyj: Kultur und Kommunikationen als Schlüssel zur ukrainischer Subjektivität

Wie man den semantischen Krieg gewinnt

Die Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame de Paris nach einem verheerenden Brand und Restaurierungsarbeiten markierte nicht nur einen kulturellen Meilenstein, sie wurde auch zu einem weltpolitischen Ereignis, einem Symbol des Engagements für den Schutz des gemeinsamen Erbes und zum Sieg der Kultur über die Tragödie.

Die Verwurzelung der westlichen Zivilisation im kulturellen Welterbe ermöglicht den Einsatz von „Soft Power“, was die diplomatischen Beziehungen festigt, die kulturelle Diplomatie stärkt und die moderne Geopolitik und die internationale Zusammenarbeit prägt. Diesmal wurde Soft Power, die sich in der herrlichen Architektur der Kathedrale widerspiegelte, zu einem Magneten, der die Anwesenheit globaler politischer Figuren bei dieser Veranstaltung garantierte.

Weltpersönlichkeiten bei der feierlichen Eröffnung der Kathedrale nach der Restaurierung. Den 7. Dezember 2024

Victor Hugo schrieb über den Bau der Kathedrale: „In dieser Epoche bestand für den in Stein geschriebenen Buchstaben eine Freiheit, die der jetzigen Freiheit der Presse ganz vergleichbar ist. Es war die Freiheit der Architektur.“ Dank diesen in Stein verkörperten Gedanken über die Freiheit legten die politischen Anführer des Westens ihre Geschäfte beiseite und kamen, um ihren Respekt nicht für das Kirchengebäude, sondern für das Symbol der Freiheit, das dazu anregt, gemeinsam für sie zu arbeiten, zu erweisen.

Mit besonderen Farben begann die Rolle Frankreichs zu spielten, nicht nur im Kontext der Einheit westlicher Gesellschaften und der gemeinsamen Arbeit an der Erhaltung des Erbes. Das Ereignis wurde unter anderem zu einer Gelegenheit, den Dialog über das gerechte Ende der russischen Aggression gegen die Ukraine und die Beendigung des Krieges zu stärken. Alle bei der Eröffnung der Kathedrale Anwesenden standen auf und applaudierten dem Erscheinen des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, in der Kathedrale. Und die Verhandlungen im Rahmen der Besuche von Weltpolitikern in Notre Dame stärkten die internationalen Positionen der Ukraine auf dem Weg zu einem gerechten Frieden.

Wolodymyr Selenskyj, Emmanuel Macron und Donald Trump bei einem Treffen in Paris

So könnte die Wiederbelebung der hoheitlichen Kathedrale als gewisse Metapher für die Wiederbelebung der Führung Europas und seiner Fähigkeit, gemeinsam Herausforderungen und Tragödien zu bewältigen, angesehen werden, von denen die schrecklichste die umfassende Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine und die Aufstaheclung zum Angriffskrieg auf dem Kontinent ist, der angesichts einzelner unverantwortlicher politischer Äußerungen der Russischen Föderation, Weißrusslands und des Iran auf andere Länder übergreifen könnte. Und auch angesichts der Rhetorik im Kontext der Realpolitik von einer Reihe amerikanischer Redner, dass die Länder der Europäischen Union stärker in die Bereitstellung wirksamer Unterstützung für die Ukraine bei der Erreichung eines gerechten Friedens einbezogen werden sollten.

Während des Treffens mit der Vorsitzenden des Ausschusses für Kultur und Bildung des Europäischen Parlaments, Nela Riehl

Die Wiedereröffnung von Notre-Dame nach tragischen Events kann ein Symbol dafür werden, dass Europäer sich daran erinnern, wer sie sind und welchen Platz in der Geschichte der ganzen Welt einnehmen. Sie werden sich daran erinnern, wie die europäische Familie sich nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg entwickelte und größer geworden ist, als es durch geopolotische Prozesse und Militarismus eine Teilung des Kulturraums auf dem Kontinent gegeben hat, wodurch Menschen gezwungen waren, beiderseits der Berliner Maurer den Eisernen Vorhang und die Organisation des Warschauer Vertrags ins Leben zu rufen.  

Über diese Teilung schrieb der tschechische Schriftsteller Milan Kundera in seinem bekannten Essay „Die Tragödie Zentraleuropas“ (1983). Im Jahr 2023 feierte die Kultur- und literarische Gemeinschaft mit ernsthaften Diskussionen weltweit den 40. Jahrestag der Veröffentlichung dieses Werkes, das zum Manifest kultureller Identität Zentraleuropas geworden ist, die durch geopolitische Prozesse „kulturell westlich, aber politisch östlich“ von der Sowjetunion „gestohlen“ worden und gezwungen war, unter Bedingungen der Unterdrückung seines kulturellen und politischen Wesens zu existieren.

Die Bedeutung des Wiederaufbaus von Notre-Dame de Paris nach der Tragödie und die Besprechung der „Die Entführung Europas“, die seit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 andauert, bringt die Erwartung dessen näher, dass Europa endlich „aufwacht“ und Existenzbedrohungen durch verbrecherisches Vorgehen und Genozid-Rhetorik der russischen politischen Führung erkennt.    

Und „Die Tragödie Zentraleuropas“ von Kundera betont, dass die Aufrufe „aufgewacht zu werden“, die an die Adresse der europäischen politischen Führerschaft gerichtet sind, wurden bereits seit langem durch imperiale Drohungen der Sowjetunion und später der Russischen Föderation diktiert.

Milan Kundera

Kundera  schrieb: “Im November 1956 schickte der Direktor der ungarischen Presseagentur einige Minuten bevor die Artillerie sein Büro in die Luft jagte, eine verzweifelte Fernschreibennachricht an die Welt über die an diesem Morgen gestartete russische Offensive gegen Budapest”. Das Telegramm endete mit den Worten: „Wir werden für Ungarn und Europa sterben.“

Kunderas Worte stellten die Frage, ob alle europäischen Hauptstädte bereit sind, „für Europa zu sterben“? Und der Krieg in der Ukraine, der bereits Zehntausenden Menschen das Leben gekostet hat, die ihre zivilisatorische Wahl verteidigten, hat gezeigt, dass diese Frage bis heute keine Antwort gefunden hat.

Bei einem Treffen mit dem Generalsekretär des Europarats Alain Berset (ganz rechts) und dem luxemburgischen Kulturminister Eric Thill

Die russische Aggression in der Ukraine ist eine Fortsetzung derselben imperialen Politik, die einst versuchte, Mitteleuropa zu assimilieren.

Das Konzept Mitteleuropas und der Einsatz russischer Panzer zur Unterdrückung seiner Identität wurden auf der Lissabonner Literaturkonferenz 1988 diskutiert, zu der auch russische Schriftsteller eingeladen waren. Natürlich waren sie aus der Sowjetunion, die formell verschiedene Republiken und ethnische Gruppen vereinte. Aber die Teilnehmer aus der Sowjetunion betonten selbst, dass sie gerade das russische Schrifttum und die russische Literatur repräsentieren.

Auf die Frage des ungarischen Schriftstellers György Konrad nach der Haltung russischer Schriftsteller zum Konzept von Mitteleuropa, die Milan Kundera in seinem Essay beschrieb, antworteten russische Schriftsteller, dass sie Mitteleuropa nicht für solches halten, das existiert.

Insbesondere stellte Joseph Brodsky fest, dass „die Probleme Osteuropas gelöst sein werden, sobald die internen Probleme Russlands gelöst sind“, was bedeuten soll, dass sich die Tätigkeit russischer Intellektueller ausschließlich auf russische Fragen konzentriert und, sich für andere zu interessieren, halten sie für unproduktiv.

Die amerikanische Schriftstellerin und Literaturkritikerin Susan Sontag betonte damals, dass die Weigerung, das Konzept Mitteleuropa und seine Subjektivität zu akzeptieren, die imperialistische Position der russischen Teilnehmer zeige, mit der sie natürlich nicht einverstanden seien.

Russlands Krieg gegen die Ukraine seit Februar 2014 hat einen Charakter einer Bestrafung durch das Imperium für die Entscheidung des ukrainischen Volkes, die Freiheit und die eigene Subjektivität zu wählen. Allerdings hat das vor 10 Jahren nicht jeder in Europa so wahrgenommen. Und nicht alle im leidgeprüften Mitteleuropa empfinden die russische Aggression als einen weiteren Versuch, die kulturelle Identität der ehemaligen Kolonie zu zerstören.

Offenbar blieben die Spuren der Raupenketten russischer Panzer auch nach ihrem Verlassen des ungarischen Territoriums so tief im Bewusstsein der Ungarn, dass heute bestimmte Politiker versprechen, alles zu tun, um die Ukraine am Beitritt zur Nato oder zur EU zu hindern.

Die Ablehnung anderer Identität und Subjektivität ist eine traditionelle imperiale Politik Russlands. Ein Beispiel hierfür ist der Artikel „Über nationale Identität und politische Wahl: die Erfahrung Russlands und Chinas“ von Dmitri Medwedew, stellvertretendem Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Russischen Föderation. Der Artikel wurde nach seinem Besuch beim Staatspräsidenten der Volksrepublik China, Xi Jinping, veröffentlicht, wahrscheinlich um seine Botschaften gegenüber seinen chinesischen Gesprächspartnern während der Gespräche öffentlich zu bekräftigen.

Medwedews Ziel ist es, das zentrale imperiale Narrativ des Kremls zu stärken, indem er eine klare und transparente Botschaft an die chinesischen Eliten formulierte, dass es keine Ukraine gibt. Dafür versucht Medwedew, die Entwicklung Taiwans und die Genese der Subjektivität der Ukraine mit manipulativen Methoden zu verbinden. Insbesondere erklärt er lange und ausführlich, dass irgendwelche Anzeichen der Identität Taiwans, wie etwa die Sprache, nur eine verzerrte Widerspiegelung der Sprache des chinesischen Festlandes seien. So zwingt er auch seine Vision der Künstlichkeit der ukrainischen Sprache und Kultur auf. Der Ex-Präsident Russlands will mit Manipulationen beweisen, dass die Sprachpolitik der ukrainischen Behörden keine Folge der politischen Subjektivität der ukrainischen Wähler ist, sondern nur als ein marginaler Trick einzelner Politiker existiert. Medwedew betont auch, dass die Ukrainer einfach nur „ukrainisierte Russen“ seien.

Chersones

Genau diese Technologie, die Subjektivität derjenigen abzulehnen, über die du die volle Kontrolle haben willst, verfolgt man seit Jahrhunderten in der russischen imperial-kulturellen und politischen Rhetorik. Dies sieht man sowohl an der Rhetorik auf der Lissabonner Literaturkonferenz als auch an Medwedews Artikel und an der Haltung gegenüber dem historischen und kulturellen Erbe und der bewussten Zerstörung der Denkmäler des antiken Chersones auf der Krim. All dies sind Teile der einheitlichen imperialen Politik des assimilierenden Völkermords an anderen Völkern, die vom Kreml totalitär betrieben wird. Das Ziel einer solchen Aktivität wurde jedoch am besten von dem ultrakonservativen russischen Hofpolitikwissenschaftler Sergei Kurginjan formuliert.

In seinem Buch „Schaukel. Konflikt der Eliten – oder der Zusammenbruch Russlands?“ aus dem Jahr 2008 schreibt er insbesondere: „Es wird ein begrifflicher Krieg geführt. Oder genauer gesagt (da der Apparat nicht immer streng rational und verständlich ist) ein Krieg um das Recht, Erscheinungen NAMEN zu geben.“ Später verwendet der Leiter der Verwaltung des Präsidenten der Russischen Föderation, Anton Waino, der berüchtigte Autor von Werken über „Nooskop“, in gemeinsamer Urheberschaft mit seinen Kollegen das erwähnte Zitat von Kurginjan in einer Studie mit dem Titel „Obras pobedy“ von 2012.

Das Imperium kann jede Subjektivität nur als Feind betrachten. Denn jede Subjektivität bedroht den Status der Imperialisten. Gerade deshalb erklärt die oben genannte Formulierung, die nicht nur Kurginjan und Waino, sondern auch andere Kreml-Ideologen zur Sprache bringen, warum die russischen Besatzer auf ukrainischem Boden zuallererst die Schilder mit Siedlungsnamen und anderen Toponymen ändern. Das russische Verteidigungsministerium hat zu diesem Thema sogar eine Reihe von Propagandavideos gedreht. Aus dem gleichen Grund spricht der pro-russische Politiker Jurij Bojko in einem skandalösen Tik-Tok-Video manipulativ das Thema der Umbenennung von Straßen- und Städtenamen an. Zwecks der Entziehung der Ukraine der Subjektivität setzt das Kreml-Imperium die Sphäre der Kultur als Waffe ein und nutzt sie aus.

Die selben Puschkin, Turgenjew und Nabokow werden praktisch dafür genutzt, um den Weg für russische Panzer zu ebnen, was man aus der Analyse des Stenogramms der oben erwähnten Lissabonner Schriftstellerkonferenz von 1988 beurteilen kann.

Paradox, aber die freie Welt reagiert gelassen auf das Absetzen von Winston Churchill auf den Universitätscampus Großbritanniens, der den Sieg seiner Nation über Hitler-Deutschland sicherte. Stattdessen wird der Wunsch, die Denkmäler von Vertretern des Aggressor-Staates von ukrainischen Straßen und Plätzen an speziell dafür hergerichtete Orte zu verlegen, als durchaus radikal wahrgenommen.

Die Weltgemeinschaften beschützen also diejenigen, die Ansprüche stellen und ihre Kultur aggressiv durchsetzen können, die von den „Freund-Fremd“-Systemen anerkannt wird. In einem solch zynischen Koordinatensystem wird man erwarten, dass ukrainische Kinder, die in Mariupol durch russische Bomben und Raketen ums Leben kamen, den Wettbewerb um Informationsraum an russische Anti-Korruptions-Oppositionelle verlieren werden. Nur wer seine Identität unter den harten Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie verteidigen kann, wird das Recht erhalten, zu überleben.

Gerade deshalb ist die Fähigkeit, Erscheinungen und Dingen ihre Namen zu geben, die eigene Sprache zur Generierung von Sinnen zu nutzen, den Fortschritt der Kultur zur Erklärung der eigenen Existenz zu nutzen, nicht nur ein Zeichen der Subjektivität, sondern auch eine Garantie für das Überleben des Volkes und des Staates.

Gleichzeitig ist der scheinbar programmierte, genetische Hass des Kremls und seiner Bewohner auf die ukrainische Sprache, auf das Konzept von Mitteleuropa und jede Erscheinung von Andersartigkeit ausschließlich der Abwehrmechanismus des Imperiums, das in einer multikulturellen Welt nicht existieren kann. Trotz theatralischer politischer Äußerungen zur Multipolarität, die in Wirklichkeit nur ein Deckmantel für die Etablierung der Russischen Föderation im Club der Supermächte der USA und Chinas sind.

Die Existenz der ukrainischen Identität wird bedeuten, dass das Imperium ein Simulacrum ist, und wenn der Kreml früher oder später gezwungen sein wird, die Existenz der Ukraine zu akzeptieren, können Tatarstan, Tschetschenien, Sibirien oder andere Subjekten, die zumindest das Recht dazu haben, gleichberechtigte Teile der Föderation zu sein, wie es in der Verfassung des russischen Staates festgelegt ist, und seine Identität nicht für das Wohl des Imperiums zu opfern, an der Reihe sein.

Gerade das ist jene einfache Idee, die in den westeuropäischen Hauptstädten akzeptiert und eingesehen werden sollte. Darüber, dass 40 Jahre ständiger wertmäßiger kultureller Reflexion wegen Milan Kunderas überdurchschnittlichen Werks „Die Tragödie Mitteleuropas“ nicht zur Erkenntnis der existenziellen Bedrohung durch russische Panzer und Raketen geführt haben, deren Hauptaufgabe darin besteht, nicht Land oder Ressourcen zu erobern, sondern die Identität auszulöschen. Denn sie kann die künstliche imperiale Existenz und das Glimmen des imperialen Simulacrums des Kremls gefährden, der dank Atomwaffen und „Oreschnik“ (Mittelstreckenraketen – Red.) hält und sich hinter Dostojewski und Tolstoi versteckt.

Die Wiederbelebung der Kathedrale Notre-Dame de Paris könnte ein Vorbote für das Begreifen dieser Idee und der Bildung und Umsetzung einer wirksamen Strategie zur Unterstützung und Entwicklung der ukrainischen Identität als Teil Mitteleuropas und der großen europäischen Familie sein.

Mykola Totschyzkyj, Minister für Kultur und strategische Kommunikation der Ukraine

Foto: Büro des Präsidenten, Ministerium für Kultur und strategische Kommunikation der Ukraine, Europäisches Parlament, Europarat