„Die Schlussfolgerungen ziehen Sie selbst“
Am 24. September rieben sich viele Leser der Online-Ausgabe (und am folgenden Tag des gedruckten Blattes) der Wiener „Presse“, die sich traditionell für die beste Tageszeitung Österreichs hält, verwundert die Augen: Sie brachte nämlich einen Text des Botschafters Russlands – und zwar ohne jede Erklärung und/oder kritische Einordnung.[1] Natürlich geht es hier nicht um diesen Botschafter als Person, als die er völlig irrelevant ist, sondern als amtlicher Vertreter des totalitären Kreml-Regimes.
Kritiker dieser Publikation durch die „Presse“ durften sich natürlich sofort die üblichen Einwände anhören: Es handle sich doch um eine Antwort auf einen Artikel des Botschafters der Ukraine in Österreich im gleichen Blatt einige Tage zuvor, zu dem es auch keinen Kommentar der Redaktion gegeben hatte[2]; man müsse „demokratisch auch die andere Seite anhören“; man dürfe „andere Meinungen nicht unterdrücken“; so etwas müssten Politik, Medien und Öffentlichkeit in einer Demokratie „eben aushalten“; es sei eine Sache der „Pressefreiheit, auch Standpunkte zu Wort kommen zu lassen, die man nicht teilt“; Österreich sei nun einmal ein neutrales Land usw. Vollends bizarr wird es freilich, wenn man sich in persönlichen Gesprächen und auf sozialen Netzwerken darüber belehren lassen muss, dass nicht etwa die unkommentierte Veröffentlichung von Kreml-Material, sondern Kritik an dieser „demokratiegefährdend“ sei (!).
Die altehrwürdige „Presse“ ist eigentlich nicht dafür bekannt, ein „Sprachrohr“ Putins zu sein. Indem sie aber gleichermaßen Texte der Botschafter der Ukraine und Russlands in Österreich ins Blatt rückte, stellte sie – gewollt oder ungewollt – Aggressor und Verteidiger moralisch auf die selbe Ebene. Und es ist entschieden kein Beitrag zur Pressefreiheit, den diplomatischen Vertreter eines Landes – Russlands – zu Wort kommen zu lassen, in dem genau diese Freiheit seit geraumer Zeit völlig abgeschafft und der Medienbereich „gleichgeschaltet“ ist. Der Kreml hat über viele Jahre hinweg zahllose Journalisten einsperren lassen, andere wurden überhaupt unter meist „ungeklärten Umständen“ getötet. Nach der Rangliste der Pressefreiheit der NGO „Reporter ohne Grenzen“ für 2024 liegt Russland auf Platz 162 von 180 Ländern (zum Vergleich: 1. – Norwegen, 32. – Österreich, 55. – USA, 61. – Ukraine).[3] Grotesk wird es bereits dort, wo sich dieser Botschafter in einer Publikation darüber beschwert, nicht publiziert zu werden („ ... die stets ablehnende Haltung zur Veröffentlichung unserer Beiträge in den heimischen Zeitungen.“). Hämisch setzt er fort, dass die „österreichische Regierung und Medien ihren Bürgern den Zugriff auf eine andere Sichtweise auf das Weltgeschehen“ verwehren (!) würden und dass die Ukraine „Propaganda“ betreibe. – So etwas sagt der Vertreter eines Landes, dessen Chef, Außenminister Sergej Lawrow, noch wenige Tage vor dem Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 alle Warnungen vor einem solchen als „Propaganda, Fakes und Erfindungen“ abtat[4]; von einem „jüdischen Blut Hitlers“[5] sowie von „in ukrainischen Labors entwickelten ethnisch orientierten Biowaffen“[6] halluzinierte und zudem wörtlich erklärte, dass „wir die Ukraine nicht angegriffen haben“[7]. Putin dozierte (und zwar ausgerechnet in einem Interview mit dem rechtsradikalen US-Verschwörungstheoretiker Tucker Carlson), dass Hitler „gezwungen“ gewesen sei, am 1. September 1939 Polen anzugreifen. [8] Und Putins Stellvertreter im russischen Sicherheitsrat, der frühere (2008-2012) Präsident Dmitrij Medwedjew, versicherte, dass das militärische Vorgehen gegen die Ukraine ein „heiliger Kampf gegen den Satan“ sei – und die „Aufgabe des Vaterlands“ (d.h. Russlands) bestünde darin, den „obersten Herrscher der Hölle zu stoppen“, egal, welchen Namen er trage – „Satan, Luzifer oder Iblis.“[9] – Alles das ist dem Botschafter zweifellos bekannt – ebenso wie der Umstand, dass sich das von ihm repräsentierte Russland nicht nur unablässig in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, darunter Österreichs, einmischt, sondern manchen von ihnen, darunter insbesondere der Ukraine, überhaupt das Existenzrecht aberkennt. Das aber hindert ihn nicht zu behaupten: „Anders als Vertreter der Ukraine und ihre westlichen Puppenspieler sind wir nie danach bestrebt, anderen unsere Meinung als einzig richtige aufzuzwingen.“ (!) Und er ortet „Versuche unverschämter Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ Österreichs. Verurteilt er also jetzt doch die Kreml-Führung, die ihn nach Wien entsandt hat? Nein – er münzt das nämlich auf die um ihr Überleben kämpfende Ukraine. Da spielt es keine Rolle, dass in der dritten Septemberwoche zahlreiche österreichische Medien über massive Hackerangriffe sehr wahrscheinlich russischer Provenienz auf österreichische Einrichtungen (darunter Energieversorger), Behörden und Organisationen (darunter Parteien) berichteten. Die Nationalratswahl war da nur noch wenige Tage entfernt: Zufall?
Natürlich kommt auch dieser Botschafter nicht ohne in Russland auf Endlosschleife laufende propagandistische Phrasen wie jene vom „kollektiven Westen“, der die Ukraine als „Spielball in der groß angelegten Konfrontation mit Russland“ missbrauche, aus. Den russischen Angriff auf die Ukraine ab Februar 2014 mit seiner massiven Ausweitung im Februar 2022 samt offizieller Annexion ukrainischer Territorien erwähnt er erst gar nicht. Doch philosophiert er über „vernünftigere Anwendungen“ von „Geldmitteln“, die eine bessere „Anwendung verdient [hätten] als eine sinnlose Verpulverung in der Kriegswirtschaft“. Das ist tatsächlich zutreffend, doch warum hat dann das von ihm repräsentierte Land seine gesamte Wirtschaft auf die „Bedürfnisse“ des Angriffskrieges gegen die Ukraine ausgerichtet? Ausgerechnet im zeitlichen Umfeld des Erscheinens des Artikels des Botschafters wurde bekannt, dass Russland seine ohnedies gewaltigen Mittel für Rüstung und Krieg für 2025 noch einmal drastisch aufstocken wird – und zwar auf geradezu atemberaubende 40% der Ausgabenseite des Budgets, was die addierten Aufwendungen für Bildung, Gesundheit, Soziales und Wirtschaft übertrifft[10] (!).
Im gleichen „Geist“ geht es weiter: „Die Weltmehrheit“, so erfährt man vom russischen Botschafter, kämpfe „für eine neue gerechtere und progressive multipolare Weltordnung, die ausschließlich auf dem Völkerrecht basieren“ solle. Aha. Zu einer solchen „Weltordnung“ mit entsprechendem „Völkerrecht“ gehört es dann also, dass eine Großmacht (wie Russland) „unbequemen“ Nachbarländern einfach das Existenzrecht entziehen und sie angreifen „darf“ – mit dem Ziel, ihre Staatlichkeit auszulöschen und ihre Gebiete zu rauben? Wen meint der Botschafter mit einem „lachenden Dritten außerhalb Europas“? Diese Beschreibung passt jedenfalls genau auf China. Und dann richtet er auch noch aus, dass die „Fakten für sich sprechen“ würden. Das ist richtig, aber in einem ganz anderen Sinne als von ihm intendiert.
Alles das zeigt einmal mehr, dass sich das Kreml-Regime nur noch lustig macht – im konkreten Fall: über die Redaktion und das Publikum der „Presse“. Hat diese Redaktion das nicht bemerkt? Wenn nein – wie war das möglich? Wenn ja, warum hat sie sich dann für die Veröffentlichung dieser Druckerschwärze gewordenen Verspottung von Fakten und Logik entschieden? Und was hält die Leserschaft, der man solche Texte zumutet, von all dem? Natürlich ist außerhalb der Redaktion des Blattes unbekannt, wie viele entsprechende Briefe eingetroffen sind, doch enthielt die Printausgabe mit Stand 27. September nur eine einzige.
Damit ein Ereignis wie die Verwendung eines Textes des russischen Botschafters durch eine Qualitätszeitung zustande kommt, bedarf es zweier Seiten – die eine, die sich über eine demokratische Medienlandschaft lustig macht und diese für ihre Zwecke zu manipulieren trachtet, und eine andere, die sich das bieten lässt, obwohl sie es leicht verhindern könnte (im gegebenen Fall: indem sie solche Propaganda einfach nicht abdruckt). Manche Beobachter hegen allerdings den (hoffentlich unzutreffenden) Verdacht, dass die Redaktion der „Presse“ mit dieser Veröffentlichung eine „Vorleistung“ an die demonstrativ prorussische rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) erbringen wollte, die vor den Nationalratswahlen am 29. September in allen Meinungsumfragen führt und massiv in die Regierung drängt (u.a. dadurch, dass sie ihren Vorsitzenden Herbert Kickl zum künftigen „Volkskanzler“ ausruft).
In jedem Fall läuft es auf eine höchst bedenkliche, ja mitunter für demokratische Systeme direkt gefährliche „Toleranz gegenüber der Intoleranz“ hinaus so zu tun, als seien offizielle russische Positionen mindestens genauso legitim wie andere (und konkret jene, die darauf verweisen, dass die Ukraine das Recht hat, in Frieden in ihren seit 1991 international – und übrigens auch von Russland – anerkannten Grenzen zu existieren). Die zahlreichen und teilweise ziemlich aggressiven westeuropäischen (und auch österreichischen) Anhänger russischer Positionen, die sie politisch beachtet und berücksichtigt wissen wollen, haben natürlich nichts von Karl Poppers „Paradoxon der Toleranz“ gehört (oder tun so als ob):
„Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“ [11]
Das in einem prorussischen Sinne insbesondere von der FPÖ bemühte Argument, dass Österreich unbedingt zwischen der Ukraine und Russland „neutral“ sein müsse, überzeugt ebenfalls nicht (abgesehen davon, dass die „Presse“ keine offizielle Zeitung der Republik und auch sonst nicht an das Neutralitätsgesetz von 1955 gebunden ist): Zwischen wem/was eigentlich konkret – zwischen Aggressor und Verteidiger, zwischen Täter und Opfer, zwischen Mörder und Ermordeten? Zwischen zerstörten Krankenhäusern, Kindergärten, Energieinfrastruktur, Kultur- und Bildungseinrichtungen einerseits sowie Putin und seiner Armee andererseits?
Solche Artikel wie der des russischen Botschafters sind ein – natürlich kleiner, aber nicht zu verkennender – Baustein der (zumindest) seit 2014 andauernden „hybriden Kriegführung“ Russlands gegen die Ukraine und alle jene, die sie angeblich oder tatsächlich unterstützen (also der berüchtigte „kollektive Westen“). Und Österreich steht nun einmal seit 2022 auf der russischen Liste „unfreundlicher Länder“ wie auch einer wenige Tage vor der Veröffentlichung des Artikels in der „Presse“ von der russischen Regierung verabschiedeten Aufstellung von 47 Ländern, die „eine Politik umsetzen, die zerstörerische neoliberale ideologische Einstellungen fördert, die den traditionellen russischen geistigen und moralischen Werten widersprechen“.[12] So also blickt das offizielle Moskau auf Österreich – ungeachtet des Umstandes, dass dieses alleine 2023 für über 3 Milliarden Euro russisches Erdgas eingekauft hat[13] und – EU-Sanktionen hin oder her – mit Russland (wenngleich nicht selten über Drittstaaten) auch in anderen Bereichen (darunter Waffen und sonstige militärtechnisch verwertbare Güter[14]) Handel treibt, womit es willentlich und wissentlich in die Kriegskasse des Kremls einzahlt bzw. dessen Militärpotenzial fördert.
„Die Schlussfolgerungen daraus ziehen Sie selbst.“ Ja, Herr Botschafter. Das wird hoffentlich wirklich geschehen. Doch es bedarf auch konkreter Antwortmaßnahmen. Was empfahl eigentlich Karl Popper? Wörtlich:
„Wir sollten […] im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.“[15]
Unabhängiger Politologe Martin Malek (Österreich) für Ukrinform
[1] Dmitrij Ljubinskij: Es geht um viel mehr als die Ukraine. Die Presse, 24.09.2024, https://www.diepresse.com/18895791/es-geht-um-viel-mehr-als-die-ukraine (27.09.2024).
[2] Vasyl Khymynets: Wir wollen einen gerechten Frieden. Die Presse, 18.09.2024, https://www.diepresse.com/18875277/wir-wollen-einen-gerechten-frieden (27.09.2024).
[3] Reporters without borders, Index, https://rsf.org/en/index (27.09.2024).
[4] Zitiert nach: Лавров назвал заявления о "вторжении" пропагандой, фейками и вымыслами. RIA Novosti, 18.02.2022, https://ria.ru/20220218/vtorzhenie-1773560441.html?ysclid=lsak0raw1x306876399 (27.09.2024).
[5] Israel verlangt Entschuldigung für Lawrows Nazivergleich. Der Spiegel, 02.05.2022, https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-sergej-lawrow-sorgt-mit-nazi-vergleich-in-israel-fuer-empoerung-a-be645c25-8d26-4557-897d-de847007e384 (27.09.2024).
[6] Zitiert nach: Лавров: создаваемое на Украине биооружие было этнически ориентировано. Kommersant‘, 10.03.2022, https://www.kommersant.ru/doc/5251004 (27.09.2024).
[7] Russia tells BBC “we did not invade Ukraine” and there is “no war” there. BBC News, 16.06.2022, https://www.youtube.com/watch?v=3ZtV0HsYzmg (04.10.2022); Лавров: мы на Украину не нападали, на другие страны тоже не собираемся. Kommersant‘, 10.03.2022, https://www.kommersant.ru/doc/5250977 (27.09.2024).
[8] Tom Norton: Fact Check: Putin Defends Hitler's Invasion of Poland in Carlson Interview. Newsweek, 09.02.2024, https://www.newsweek.com/fact-check-putin-defends-hitlers-invasion-poland-carlson-interview-1868582?s=04&fbclid=IwAR2cnJI4LbDt0N1NOAAJtr5DZBlnDEkGl7pxeuXnwF4Dr_9seOy-Gg0ETlM (27.09.2024).
[9] Zitiert nach: Medwedew: Russland führt heiligen Kampf gegen Satan. ORF, 04.11.2022, https://orf.at/stories/3292386/ (27.09.2024); für das russische Original vgl.: Дмитрий Медведев: ПОЧЕМУ НАШЕ ДЕЛО ПРАВОЕ. Ответы на простые вопросы в День народного единства. Telegram, 04.11.2022, https://t.me/medvedev_telegram/206 (27.09.2024).
[10] Russia to Boost Military Spending to 40% of State Budget in 2025 – Bloomberg. The Moscow Times, 24.09.2024, https://www.themoscowtimes.com/2024/09/24/russia-to-boost-military-spending-to-40-of-state-budget-in-2025-bloomberg-a86450 (27.09.2024).
[11] Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1: Der Zauber Platons. Tübingen 1957/1992, S. 333.
[12] Russian prime minister approves list of countries imposing destructive attitudes. TASS, 20.09.2024, https://tass.com/politics/1845935 (27.09.2024).
[13] Meret Baumann: Österreich überweist Milliarden in Putins Kriegskasse. Handelsblatt, 14.02.2024, https://www.handelsblatt.com/politik/international/energieversorgung-oesterreich-ueberweist-milliarden-in-putins-kriegskasse/100014920.html (27.09.2024).
[14] Vgl. z.B. Bericht: Russische Armee setzt auch österreichische Waffen ein. ORF, 23.05.2024, https://orf.at/stories/3358543/ (27.09.2024).
[15] Popper a.a.O.