Inmitten der vielen Probleme, die der Russland-Ukraine Krieg mit sich bringt, wird der Schrecken des gewaltsamen Vorgehens der Besatzer gegen jeden Menschen nur wenig bekannt gemacht. Denn wenn an einem Tag Dutzende von feindlichen Raketen abgefeuert, Städte und Dörfer zerstört und die Verteidiger der Ukraine getötet werden, ist es der Zivilbevölkerung peinlich und beschämend sogar, über Gewalt zu sprechen. Wie unter anderem die Erfahrungen mit den militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan in den Jahren 1991–2001 zeigen, haben es die Überlebenden von konfliktbedingter sexualisierter Gewalt (CRSV) nicht eilig, ihre Geschichten von Schmerz und Demütigung zu erzählen. Erst im August 2019 hat der UN-Ausschuss gegen Folter nach einer Untersuchung der Gewalttaten, einschließlich des sexuellen Missbrauchs an der Zivilbevölkerung des ehemaligen Jugoslawiens, ein Urteil gefällt: Die Behörden von Bosnien und Herzegowina müssen den Opfern sexualisierter Gewalt in diesem Krieg eine materielle Entschädigung und eine öffentliche Entschuldigung zukommen lassen.
Wie sind die Aussichten auf rechtlichen und sozialen Schutz für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die seit 2014 Überlebenden von CRSV geworden sind? Wie viele sind es? Wie kann die Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen dazu beitragen, eine gerechte Bestrafung der Täter aus dem Aggressorland zu erreichen? Diese Fragen beantwortet Serhij Nischynskyj, Leiter der zivilgesellschaftlichen Menschenrechtsorganisation UA Experts, Doktor der Rechte und Berater des Büros der Vizepremierministerin für europäische und euro-atlantische Integration.
NACH ANGABEN DER UN WURDEN 90 PROZENT DER UKRAINISCHEN GEFANGENEN GEFOLTERT
Herr Nischynskyj, vor mehr als einem Jahr haben die ukrainische Regierung und die UN ein Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt im Krieg unterzeichnet. Wie wichtig ist das? Weil wir uns daran erinnern, dass die Schlussfolgerungen der Vertreter dieser internationalen Organisation in Bezug auf den Russland-Ukraine Krieg nicht immer mit unseren Realitäten übereinstimmen.
Einerseits gibt es Fälle, in denen die Vertreter der Vereinten Nationen die Ereignisse in der Ukraine zweideutig interpretieren. Andererseits sind wir uns darüber im Klaren, dass ohne die Beteiligung der Vereinten Nationen der Prozess der Lösung vieler Fragen im Zusammenhang mit den Folgen der russischen Aggression schlimmer und langsamer verlaufen wäre.
Erst neulich hat Alice Jill Edwards, Sonderberichterstatterin über Folter, offizielle UN-Statistiken veröffentlicht, wonach die russischen Besatzer 90 % der ukrainischen Kriegsgefangenen gefoltert haben. Und diese Information ist bereits eine indirekte Widerlegung der Aussage anderer UN-Beamter, die kürzlich gesagt haben, dass es in der Ukraine keinen Völkermord gibt.
Wenn wir diese Fakten von der UNO haben – dass 90 % der ukrainischen Kriegsgefangenen gefoltert wurden – dann ist es klar, dass es unter ihnen Fälle von Sexualverbrechen gab. Sind sie von den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden überprüft? Sicherlich nicht alle. Sind uns alle Fälle von CRSV an Zivilisten bekannt, die in den vorübergehend besetzten Gebieten, zu denen wir keinen Zugang haben, weiterhin begangen werden? Leider nein. Aber die von der internationalen Organisation veröffentlichten Informationen sind wichtig.
Der Feind setzt sexualisierte Gewalt als eine der Methoden ein, um den Russland-Ukraine Krieg in einem noch nie dagewesenen Ausmaß zu führen. Vor allem, um die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten einzuschüchtern, zu rächen oder zu „bestrafen“. Um umgehend auf diese Verbrechen zu reagieren, haben die ukrainische Regierung und die Vereinten Nationen Anfang Mai letzten Jahres ein Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung von CRSV unterzeichnet. Vor einem Jahr, im September, verabschiedeten sie einen Plan zu dessen Umsetzung.
Es sei daran erinnert, dass es sich bei CRSV um unverjährbare Kriegsverbrechen handelt, zu denen nicht nur Vergewaltigungen gehören.
CRSV umfasst verschiedene Formen, von denen die häufigste Vergewaltigung und Genitalverstümmelung, einschließlich Elektroschocks, sowie sexuelle Nötigung, erzwungene Nacktheit und Erzwingen des Zuschauens bei sexualisierter Gewalt gegenüber einer anderen Person sind.
Diejenigen, die im Februar/März 2022 versucht haben, in die von der Regierung kontrollierten Gebiete zu gelangen – fast alle – sind gezwungen worden, sich an russischen Kontrollpunkten bei den Minusgraden zu entkleiden. Diese Informationen stammen vom Büro des Ombudsmannes für Menschenrechte, dessen Vertreter seit Beginn des Krieges eine großartige Arbeit bei der Evakuierung von Bürgern aus den Frontgebieten geleistet haben.
Wenn wir den Opfern sagen, dass erzwungene Entkleidung eine Art von CRSV ist, sind die Menschen überrascht und reagieren anders, weil sie diese Tatsache nicht kannten. Sie sind dann eher bereit, Hilfe zu suchen. Die umfassende Aggression der Russischen Föderation und die Begehung von Massenverbrechen, einschließlich Sexualverbrechen, durch das russische Militär gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine haben die Funktionen und Aufgaben sowohl der staatlichen Stellen als auch des zivilen Sektors bei der umfassenden Unterstützung der Überlebenden dramatisch verändert.
DIE MEISTEN ÜBERLEBENDEN VON GEWALT ZEIGEN MISSHANDLUNGEN NICHT AN
In den anderthalb Jahren der vollständigen Invasion russischer Truppen in die Ukraine wurden nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft 231 CRSV-Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung verifiziert (Stand: 7. September). Man geht davon aus, dass diese Zahl mit mindestens 20–30 multipliziert werden sollte, und dass die von Raschisten in den besetzten Gebieten begangenen Verbrechen, die später aufgedeckt werden, hinzugezählt werden sollten, und dann haben wir echte Daten. Das heißt, mindestens 5.000 Überlebenden, oder?
Es gibt Fälle, die vor Gericht gebracht wurden, die noch nicht vor Gericht gebracht wurden, und solche, die vor Gericht noch untersucht werden. Und es gibt Informationen, die bei den Call-Centern und Rettungsstellen eingehen, wo sie bearbeitet und mit dem Einverständnis der Opfer entweder an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden oder Psychologen mit den Opfern arbeiten. Wir konzentrieren uns auf die soziale Wirkung und den Aspekt, der es einer Person ermöglicht, sich zu öffnen. Auf diese Weise können wir uns der tatsächlichen Zahl der Straftaten nähern, die als CRSV eingestuft werden.
Es ist ein großer Erfolg, wenn es uns gelingt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die Zeugen solcher Verbrechen melden. Denn selbst die Menschen, die den Missbrauch gesehen haben, wollen nicht darüber sprechen.
Hier ist ein Beispiel. Mitarbeiter unseres Projekts waren in Gefangenschaft. Und wir haben Informationen darüber, wie sich die Opfer verhalten haben, was dort passiert ist und ob es Folter gab. Aber 99 % dieser Menschen haben CRSV nicht bei den Strafverfolgungsbehörden angezeigt.
Ist das erste Hindernis, das die Überlebenden zum Schweigen bringt, ein psychologisches?
Alle Menschen verbinden die Anrufung der Strafverfolgungsbehörden mit der Eröffnung eines Strafverfahrens und zahlreichen Verhören. Wir erklären jedoch, dass vor allem die Entscheidung des Opfers oder der Opfer, seine oder ihre Geschichte zu erzählen, als zentraler Aspekt betrachtet werden sollte. Und bei der Kommunikation mit den Überlebenden sollte eine Retraumatisierung so weit wie möglich vermieden werden.
Außerdem sind viele von ihnen Betreuer. Und Sie wissen, dass die Arbeit mit Kindern einen angemessenen Schutz, eine gute Kommunikation mit den Menschen und den Strafverfolgungsbehörden, einschließlich der Anwälte, erfordert. Ohne angemessene Vormundschaft und Betreuung ist es daher unmöglich, Minderjährige über CRSV zu befragen. Und dann sind da noch Staatenlose, Flüchtlinge, Ausländer und Personen mit ergänzendem Schutzstatus. Nach dem Gesetz und den internationalen Übereinkommen handelt es sich bei der Kommunikation mit diesen Personen um eine gesonderte Form der Kommunikation.
Daher ist die Verbreitung von Informationen durch unsere gesellschaftliche Organisation über die Möglichkeiten der Antragstellung, wie man Hilfe erhält und was genau dies sowohl für die natürliche Person als auch für den Staat bedeutet, ein wichtiger Punkt.
Müssen viele Gesetze und Vorschriften geändert werden, um die Überlebenden kriegsbedingter Gewalt zu ermutigen, sich bei den Strafverfolgungsbehörden zu melden?
Es ist notwendig, die Anweisungen des Gesundheitsministeriums und des Ministeriums für Sozialpolitik zu ändern sowie neue Normrechtsakte zu erlassen. So enthält beispielsweise auch die Zivilprozessordnung den Begriff des „Handlungsstörers“ überhaupt nicht, was zu einer gewissen Rechtsunsicherheit führt. Wenn wir ihn in unsere Gesetzgebung aufnehmen, wird es einfacher sein, andere Regelungen zu entwickeln.
Wenn wir unsere nationalen Rechtsvorschriften im Rahmen des Ratifizierungsprozesses mit der Istanbul-Konvention in Einklang bringen, kennen wir viele der Vorschriften nicht. Und selbst wenn wir die Istanbul-Konvention ins Ukrainische übersetzt haben, müssen wir sie unserer Kriminologie noch ein wenig anpassen.
Wie lange wird es dauern, bis der Begriff „Handlungsstörer“ in die ukrainische Gesetzgebung aufgenommen wird?
Ich denke, dass die Gesetzgeber diese Aufgabe bis zum Ende des Jahres bewältigen können.
Es hängt alles vom Willen der Parlamentarier und der Aktivität der Zivilgesellschaft ab. Die öffentliche Aktivität und der Wunsch nach Gerechtigkeit sind jetzt enorm hoch. Unsere gesellschaftliche Organisation setzt sich sehr aktiv für Gesetzesänderungen ein, die die Reaktion auf Fälle von CRSV und die Berechnung der Zahlungen an die Überlebenden beschleunigen sollen.
DIE ÜBERLEBENDEN WEHREN SICH DAGEGEN, ALS „OPFER“ BEZEICHNET ZU WERDEN
Bei staatlichen und nichtstaatlichen Call-Centern gingen 93.000 Anrufe von Zivilisten ein, die sich über verschiedene Arten von Gewalt während des Krieges beschwerten. Wissen wir, wie viele dieser Anrufe von Opfern sexualisierter Gewalt und Zeugen solcher Taten gestammt sind?
Die Gesamtzahl der Anrufe bei den Strafverfolgungsbehörden und Menschenrechtsorganisationen wegen Gewalt während des Krieges ist sogar noch höher (in Bezug auf die CRSV, die Folterung von Kriegsgefangenen, die häusliche Gewalt, die leider nicht verschwunden ist). Kateryna Borosdina, Vizepräsidentin von La Strada, hat von 17.000 Anrufen wegen geschlechtsspezifischer Gewalt gesprochen. Uns liegen Daten zu 2,6 Tausend Anträgen auf kostenlosen Rechtsbeistand vor, die aus den Mitteln der Hilfszentren finanziert worden ist. Das Innenministerium hat in einem Interview mit der Deutschen Welle 145.000 Fälle angegeben. Auf der Website des Ministeriums heißt es, dass in der ersten Jahreshälfte 50.000 Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet worden sind, was einem Anstieg von 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht.
Die Informationen aus den Call-Centern werden nur mit dem Einverständnis des Opfers oder der Opfer an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet, damit diese auf einen bestimmten Fall reagieren können, da der Schutz der persönlichen Daten und der Identität von zentraler Bedeutung ist.
Es gibt noch ein weiteres Segment: die Opfer von Menschenhändlern. Die Daten des Ausschusses, der diesen Status gewährt, sind geschlossen. Ich bin sicher, dass einige der Personen, die diesen Status erhalten haben, für unser Thema von Interesse sein könnten. Zum Beispiel diejenigen, die in Gefangenschaft gehalten worden sind: Sie sind von russischen Soldaten gefoltert, gezwungen, sich auszuziehen, und kostenlos ausgebeutet worden. Um nicht zu sterben, waren die Gefangenen gezwungen, alles für Essen zu tun.
Mitmenschen haben nicht immer Mitgefühl mit den Überlebenden sexualisierter Gewalt. Wie können Sie die ukrainische Gesellschaft, die von den vielen Unglücken des Krieges elektrisiert ist, davon überzeugen, dass Überlebende von CRSV wirklich erlitten haben?
Überlebenden von CRSV ist eine ziemlich heikle Bezeichnung. Wir arbeiten jetzt daran, dass die Verhöre von Überlebenden von Sexualverbrechen durch die Strafverfolgungsbehörden auf ein Minimum reduziert werden, damit es nicht zu einer Retraumatisierung kommt. Außerdem wollen wir, dass die Kommunikation in Form einer geschlossenen Videokonferenz stattfindet, wenn die/der Überlebende zu Hause ist. Das heißt, solche Fälle sollten eine entsprechende Geheimhaltungsklasse erhalten. Denn einerseits wollen Journalisten Informationen haben, andererseits haben die Rechte der Überlebenden Vorrang.
Wir schlagen außerdem vor, die Opfer von sexualisierter Gewalt während des Krieges mit den Opfern des Krieges gleichzusetzen, die Anspruch auf entsprechende Leistungen haben. Und es ist sehr wichtig, den Prozess des sozialen Schutzes sofort so zu organisieren, dass es keine Konflikte zwischen den Beihilfeberechtigten verschiedener Kategorien gibt: Kombattanten, zivile Gefangene, alleinerziehende Mütter, kinderreiche Familien und Pflegefamilien und eine separate Kategorie von Überlebenden von Sexualverbrechen.
Niemand sollte wissen, dass diese Frau ein Opfer von Sexualverbrechen ist, aber sie sollte im entsprechenden Register des Nationalen Sozialdienstes und des Ministeriums für Sozialpolitik, die Leistungen gewähren, eingetragen sein. Denn es handelt sich um Menschen, die für die vorübergehende Besetzung mit ihrer eigenen Gesundheit bezahlt haben.
Die Frauen, die seit 2014 in russischen Gefängnissen sexuell missbraucht worden sind und mit denen ich gesprochen habe, lehnen es entschieden ab, als „Opfer“ bezeichnet zu werden. Sie positionieren sich als Überlebenden, die ihr Trauma in persönliches Wachstum umwandeln konnten. Werden die Initiatoren der gesetzlichen Regelung dies berücksichtigen?
Auf jeden Fall. Wir studieren die Erfahrungen anderer Länder in dieser Hinsicht. Während das ukrainische Außenministerium vor Treffen von Staatsbediensteten mit Organisationen aus dem Kosovo warnt, haben die aktivsten gesellschaftlichen Organisationen in der Ukraine, in Albanien und im Kosovo keine Einschränkungen für Treffen zugunsten von ukrainischen Überlebenden. Im August ist in Tirana eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit zugunsten der ukrainischen Überlebenden von Sexualverbrechen während des Krieges mit Russland unterzeichnet worden. Ich möchte Sie daran erinnern, dass sich das Kosovo der G7-Erklärung über Sicherheitsgarantien für die Ukraine angeschlossen hat. Wir treffen uns ständig mit Vertretern von NRO bei den Vereinten Nationen auf verschiedenen Plattformen, um die ukrainische Frage zu erörtern, und die ukrainische Seite wird immer unterstützt.
Das Rehabilitationszentrum des Kosovo hat mehr als 1.700 Opfer registriert, die offiziell angemessene Hilfe vom Staat erhalten haben. Allerdings hat man erst vor kurzem alle Kriegsgeschädigte mit Kriegsopfern gleichgesetzt und ihre sozialen Garantien in den einschlägigen Rechtsvorschriften verankert.
Machen wir uns klar, dass seit den tragischen Ereignissen zwei Jahrzehnte vergangen sind ...
... und die Opfer melden sich immer noch und eröffnen. Oft ziehen diese Menschen in eine andere Region, weil sie von ihren Mitbürgern schikaniert werden, vor allem in Kleinstädten.
Nach der Telefonkonferenz haben wir die Situation sowohl im Kosovo als auch in Albanien analysiert und unsere Initiativen mit denen auf dem Balkan verglichen. Jetzt wollen wir beispielsweise die Verordnung des Gesundheitsministeriums dahingehend ändern, dass das Gutachten eines/einer (geprüften, bei den zuständigen Stellen registrierten) Facharztes/Fachärztin für Geburtshilfe und Gynäkologie als wichtiges Beweismittel gelten kann. Auch dies, um eine weitere Retraumatisierung der Überlebenden zu vermeiden.
Besteht in der Ukraine, wo der Krieg noch nicht zu Ende ist, die gleiche Chance auf eine „unsichtbare Generation“ wie in den Balkanländern, in denen 1991–2001 bewaffnete Konflikte stattfanden?
In Sarajevo gibt es Geschichten von Kindern, die bereits 20 Jahre alt sind und von Frauen geboren worden sind, die während des Krieges vergewaltigt worden waren. Sie waren oft sozial isoliert. Wir sollten versuchen, dafür zu sorgen, dass es solche „unsichtbaren“ Menschen nicht oder so wenig wie möglich gibt. Zu diesem Zweck sollte der Status der Überlebenden von CRSV vertraulich gemacht werden.
ES IST WICHTIG, DASS DIE UKRAINE DAS ROM-STATUT RATIFIZIERT
Es gibt 11 aktive Hilfszentren für Überlebende. Ist das zum jetzigen Zeitpunkt ausreichend? Warum haben Sie das erste Zentrum im Ausland, in Prag, eröffnet?
Unser Hauptaugenmerk liegt jetzt darauf, den Fokus der Appelle zu ändern, damit Überlebenden und Zeugen nicht denken, dass sie sofort in den Prozess involviert sind. Jeder versteht, dass es sich um einen Langzeitprozess handelt und hat Angst davor. Und wir wollen, dass die Überlebenden und Zeugen den zuständigen Stellen, den Hilfszentren für Überlebende, von denen es inzwischen 11 gibt, Informationen zukommen lassen.
Wir wissen, wie viele Menschen jetzt im Ausland sind und Angst haben, in die Ukraine zu kommen, nicht einmal wegen der Bombardierung, sondern wegen der Retraumatisierung. Wenn die Kampagne der First Lady besagt, dass jeder zweite Mensch in der Ukraine an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, können Sie sich dann vorstellen, wie viele Ukrainer und Ukrainerinnen im Ausland Angst haben, sich in bestimmten Gebieten zu beweisen, irgendwo gesehen zu werden? Deshalb wird die Einrichtung von Hilfszentren für Überlebende im Ausland oder die Systematisierung dieser Informationen sowohl den Privatpersonen als auch denjenigen, die mit diesen Menschen arbeiten, helfen.
Außerdem initiiert unsere gesellschaftliche Organisation den Ausbau entsprechender Online-Portale für konsularische Vertretungen. Damit ein Konsul, der mit einer Person in Kontakt kommt, sofort einen Algorithmus für Maßnahmen hat: worauf er die Person lenken, sie weitervermitteln und welchen Rat er ihr geben kann, wenn sie Zeuge oder Opfer eines Sexualverbrechens geworden ist. Wir haben nun im Rahmen der von Olga Stefanischyna geleiteten Arbeitsgruppe für die Unterstützung von Ukrainern und Ukrainerinnen im Ausland solche Änderungen für das Außenministerium initiiert und werden die Konsularabteilung dabei unterstützen, diese Portale zu erweitern und mit relevanten Informationen zu füllen.
Die Tschechische Republik ist ein Grenzland, und dort leben pro Kopf mehr Ukrainer und Ukrainerinnen als irgendwo sonst, sogar in Polen. Die Tschechische Republik war politisch bereit, das Zentrum zu eröffnen. Polen könnte das zweite Land sein, ebenso wie andere Länder.
Die Aktivitäten des Zentrums zielen auf die Umsetzung des Rahmens für die Zusammenarbeit zwischen der ukrainischen Regierung und den Vereinten Nationen bei der Prävention und Reaktion auf konfliktbedingte sexualisierte Gewalt und des nationalen Aktionsplans für die Umsetzung der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats zu Frauen, Frieden und Sicherheit bis 2025. Von den 231 offiziell registrierten Fällen von CRSV waren 82 Männer. Gelten die gesetzlichen Bestimmungen in diesem Stadium gleichermaßen für beide Geschlechter?
Die CRSV-Konsequenzen sind für Männer und Frauen unterschiedlich. Der eine kann gebären, der andere nicht. Es gibt also eine geschlechtsspezifische Komponente. Aber das Gesetz sollte Frauen und Männer gleichermaßen schützen.
Welche Erfahrungen haben Sie bei der Arbeit mit Überlebenden von CRSV während der ATO gemacht? Wie viele Menschen wurden in diesem Zeitraum von mehr als sieben Jahren sexuell missbraucht? Dies ist definitiv ein Teil der Menschen, die illegal inhaftiert waren, insbesondere in „Isoljazija“ in Donezk.
Tatsächlich hat die Gesellschaft nach 2014 mehrere Jahre lang im öffentlichen Raum nicht auf Sexualverbrechen in den vorübergehend besetzten Gebieten reagiert. Die Ereignisse wurden nämlich offiziell nicht als Krieg bezeichnet. Obwohl es vor allem von der krimtatarischen Bevölkerung als Opfer der Verbrechen der Besatzungsbehörden Appelle gab.
Nach dem 24. Februar 2022 gibt es viele Fakten über die Misshandlung von Zivilisten, insbesondere in der Region Kyjiw in Butscha. Es gab viele Zeugen, die sich in Kellern und Untergeschossen aufhielten. Sie bestätigten die Tatsache, dass Kadyrows Männer im Affekt und betrunkenen Zustand Ukrainer misshandelten. Das jüngste CRSV-Opfer war 4 Jahre alt, das älteste 82 ... Das waren unmenschliche Taten, und die Täter müssen bestraft werden.
Hindert die Tatsache, dass die Ukraine das Römische Statut noch nicht ratifiziert hat, sie daran, russische Kriegsverbrecher, die unter anderem CRSV begangen haben, gerecht zu bestrafen?
Wir müssen das Römische Statut so schnell wie möglich ratifizieren, denn das ist unser Weg zur Gerechtigkeit für die Überlebenden.
Das würde es den Strafverfolgungsbehörden ermöglichen, internationale Strukturen zu nutzen. Und auch, um entsprechende Subventionen und Zuschüsse für Fachkräfte zu erhalten. Wir müssen das Römische Statut noch vor dem Jahreswechsel ratifizieren, sonst wird es negative Folgen haben, das sage ich Ihnen als Menschenrechtsaktivist.
Walentyna Samtschenko, Kyjiw
Foto: Kyryl Tschubotin