Warum bringt Russland bisher die Sprachenfrage und die Festlegung des offiziellen Status der russischen Sprache als Priorität für mögliche Verhandlungen hartnäckig zur Sprache?
Wir sprechen mit Herrn Wolodymyr Kulyk, Doktor der Politikwissenschaften, Forscher des Mediendiskurses, der Ethnopolitik, der Identität, des Nationalismus, auch darüber, und im Allgemeinen über Sprache, Politik, Krieg und warum weder die Europäer noch ein Teil der Ukrainer bisher die Ursprünge der Sprachsituation in der Ukraine, die Bedürfnisse, gerade die ukrainische Sprache zu schützen und die russische Sprache auf unserem Territorium zu „erschöpfen“, verstehen.
Wolodymyr, Sie beschäftigen sich schon seit langem mit diesem Thema und verstehen wahrscheinlich, warum die Sprachfrage für die Russen während des Krieges aktuell bleibt, abgesehen von der Besetzung von Gebieten, der ständigen Neutralität und der Reduzierung der Armee, bestehen sie immer hartnäckig auf dem offiziellen Status des Russischen?
Weil sie die Ukraine an sich annektieren und zu einem Teil Russlands machen wollen. Das ist eine einfache Antwort. Ich werde versuchen, es aus ihrer Sicht näher zu erläutern. Solange wir Ukrainisch sprechen, nicht auf Russisch übergehen und keine russischen Kulturinhalte konsumieren, bleiben wir für sie fremd.
Schauen Sie: Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wollten sie erst die gesamte Ukraine besetzen. Aber jetzt, wo sie von Galizien und Bukowina sprechen, deuten sie darauf an, dass diese Gebiete von Polen oder Ungarn eingenommen werden könnten. Diese Regionen seien angeblich schwer zu „verdauen“ und hätten für die Russen keine strategische Priorität.
Geopolitisch ist für sie natürlich jeder Teil der Ukraine wichtig, aber aus assimilationspolitischer Sicht ist es viel wichtiger, die Ost-, Süd- und Zentralukraine zu besetzen. Aus Russlands Sicht leben hier überwiegend Orthodoxe, „fast ein Volk“. Sie glauben auch, dass die meisten Menschen in diesen Regionen, insbesondere in den Städten, Russisch sprechen. Daher scheint ihnen der kulturelle Unterschied unbedeutend zu sein. Sie schließen ukrainische Schulen und stellen alles nicht nur auf die russische Sprache um, sondern führen auch das russische Programm ein. Sie spielen ein wenig mit dem Unterrichten der ukrainischen Sprache als Unterrichtsfach, sozusagen auf Wunsch der Eltern, aber in Wirklichkeit, um es milde auszudrücken, entmutigen sie, und härter gesagt, bestrafen sie für diesen besonderen Wunsch, die ukrainische Sprache zu lernen.
Das heißt, ihre Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass sich die Ukrainer nicht anders fühlen als die Russen, denn nur in diesem Fall kann die Ukraine wirklich annektiert werden.
Und sie machen diese Frage immer zum Thema, indem sie Forderungen für „Verhandlungen“ mit uns kommunizieren
Natürlich. Sie können einem Waffenstillstand zustimmen, wenn sie Garantien für eine Expansion der Sprache erhalten. Dies ist eigentlich eine Rückkehr zu „Soft Power“. Russland ist bereit, die Feuer auszusetzen, wenn sicher sein wird, dass die sprachliche und kulturelle Expansion dieses Mal effektiv sein wird. Dazu brauchen sie einen offiziellen Status der russischen Sprache in der Ukraine. Putin will sicher sein, dass er, sobald er die Kämpfe beendet, in der Lage sein wird, die Ukraine durch politische, wirtschaftliche und vor allem kulturelle und sprachliche Mittel unter Kontrolle zu halten.
Die Sprache ist also ein Mittel der Kontrolle für das heutige Russland, stimmt’s?
Die Sprache ist ein wesentlicher Teil dieser „Soft Power“: Sie muss die Ukraine weniger unabhängig, weniger gefährlich und kontrollierter machen, insbesondere indem man aus Ukrainern Anhänger Russland macht. Damit die Ukrainer vom russischen Kulturraum, von russischen Kulturinhalten abhängig sein, an diese gebunden sein werden, ist eine aktive Rolle der russischen Sprache im Alltag, entweder als Erstsprache oder als aktiv genutzte Zweitsprache erforderlich.
Ohne die Lösung dieser „Sprachenfrage“ bleibt die Ukraine für Russland fremd, die Kontrolle über sie wird schwieriger. Dann haben sie nur die militärische Stärke. Unterwerfen, erobern, egal welche Sprachen dort gesprochen werden.
Und sonst bringen wir unsere Sprache mit, ernennen eine koloniale Administration… Unter der „Vereinigung von Völkern“ im Sinne Angliederung von Gebieten an Russland verstehen sie die russische Sprache, orthodoxes Glauben, eine antiwestliche Ideologie. Durch all diese Komponente würden ihrer Ansicht nach die Ukrainer so wie sie, „beinahe“ Russen. Vielleicht ein wenig begriffsstutzig. ein wenig etwas inadäquat...
UKRAINISCH-EUROPÄISCHER SPRACHZUSAMMENHANG: (MISS)VERSTÄNDNIS
Öfters sieht es so aus, dass Europäer überhaupt sprachliche Besonderheiten in der Ukraine nicht verstehen. Sie nehmen die Unterstützung der ukrainischen Sprache in der Ukraine als „Angriffe“ auf die Rechte sprachlicher Minderheiten wahr. Sie sehen keinen Druck Russlands bezüglich der russischen Sprache. Im Gegenteil sieht es so aus, als ob es in der Ukraine ein Problem mit der Einhaltung der Rechte der Bürger, die verschiedene Sprachen sprechen, gibt. Warum dieses Missverständnis?
Es gibt zwei Hauptgründe für dieses Missverständnis. Der erste ist die Achtung der Vielfalt, insbesondere der sprachlichen Vielfalt, in Europa. Das Europa der Nachkriegszeit basierte auf der Idee einer konfliktfreien Koexistenz verschiedener nationaler Gemeinschaften. Dafür sind Mechanismen zur Anerkennung von Sprachminderheiten und zur Gewährung von Rechten für sie notwendig. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die meisten europäischen Minderheiten heute sehr klein sind, ihre Sprachen oft bereits marginalisiert sind und ihre Sprecher die Mehrheitssprache gut beherrschen. Daher stellen diese Minderheiten keine Gefahr für die nationale Einheit oder territoriale Integrität dar.
Aber auch in Europa gibt es andere Beispiele, wie die Sprachenfragen in Katalonien oder auf Korsika, die häufig Ängste bei den Behörden hervorrufen. Die französische Regierung weigert sich beispielsweise, im Parlament die korsische Sprache zu benutzen und erlaubt nur Französisch. Sobald kulturelle Andersartigkeit eine politische Dimension erhält, wird versucht, sie sofort zu unterdrücken. So ist die Geschichte mir der Sprachenfrage in Katalonien. Der kleinste Hinweis auf die politische Dimension dieser kulturellen Andersartigkeit wird also sofort unterdrückt, gestoppt.
Der zweite Grund dieses Missverständnisses sind Unkenntnisse über die koloniale Natur der russischen Herrschaft über die Ukraine (sowie über Georgien oder Kasachstan).
Die russische Vorherrschaft – das ist ein klassisches Beispiel eines Kolonialregimes. Die Befreiung vom Kolonialregime erfordert den Verzicht auf die Sprache der Kolonisatoren, aber die Europäer berücksichtigen dies oft nicht.
Die Europäer haben gesehen, wie die holländische Sprache aus Indonesien zum Teufel gejagt worden war. Französisch wurde aus Indochina verdrängt. Gleichzeitig dominieren die Kolonialspachen weiter in Afrika (Zum Beispiel in Kenia und Ghana), deren Aufbewahrung ist wichtig geworden, damit die örtlichen Eliten an der Macht bleiben konnten.
Jedes Volk, indem er die Unabhängigkeit erlangt, entscheidet selbst, insofern das koloniale Erbe aufbewahrt werden muss. Der Grundsatz bezüglich der Achtung von Kolonialsprachen als einem Teil kultureller Vielheit funktioniert aber nicht. Diese Vielheit war doch zwangsweise aufgedrängt worden.
Das größte Problem und die Paradoxe bestehen darin, dass Europäer den kolonialen Charakter der russischen Präsenz in der Ukraine nicht begreifen. Sie verstehen nicht, dass Russisch, dessen massenhafte Verbreitung und Gewohnheit den russischsprachigen Content zu nutzen, ein Teil des Reichserbes ist, das die Ukraine zu bekämpfen hat. Und sie halten die Schließung von russischen Schulen bzw. die Einschränkung der russischen Sprache für die Verstöße gegen Menschenrechte.
Bis es aber kein Verständnis für die koloniale Natur der russischen Herrschaft und der antikolonialen Natur der ukrainischen nationalen Politik gibt, wird diese Frage ständig in Europa gestellt werden.
Ich bin mit Ihnen einverstanden, dass Schablonen, die es in Europa gibt, nicht immer in die ukrainischen Realien passen. Und da entsteht eine logische Frage, was damit zu tun ist? Wie diese Missverständnisse zu beseitigen sind? Wer muss das tun?
Das ist eine Aufgabe für uns selbst. Die Ukraine muss den Europäern ihre Geschichte, ihre Gegenwart durch Kulturveranstaltungen, Journalistik und akademische Forschungen erklären. Ideal wäre es, dass Europäer die ukrainische Geschichte selbst erlernen. Aber real hängt das von uns ab.
Ich habe mich zum Beispiel kürzlich in Frankreich mit Alexandra Goujon getroffen, einer Forscherin für die Ukraine und Weißrussland. Seit Jahren erklärt sie in den französischen Medien, was die Ukraine tut und warum sie nicht so ist, wie Russland über sie behauptet. Aber es muss Hunderte solcher Forscher geben. In Polen oder Deutschland ist die Situation besser, aber in den Ländern Südeuropas, wie Italien oder Spanien, ist die Erforschung der Ukraine fast nicht vertreten.
Wir müssen daran arbeiten, das Wissen über die koloniale Natur der russischen Herrschaft und den antikolonialen Charakter des ukrainischen Widerstands zu verbreiten. Es ist auch wichtig zu erklären, dass sich die Natur unserer nationalen Minderheiten von den europäischen unterscheidet. Beispielsweise beherrschen die Ungarn in der Ukraine oft nicht einmal auf Haushaltsebene die Staatssprache.
In Frankreich, zum Vergleich, hat der Staat dafür gesorgt, dass alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer Herkunft, Französisch beherrschen. Bei uns sprechen Absolventen von Schulen mit ungarischer Unterrichtssprache oft kein Ukrainisch, was sie daran hindert, auf dem Arbeitsmarkt zu konkurrieren, außer in ungarischen Dörfern oder in Ungarn selbst. Als Ergebnis finanziert die Ukraine tatsächlich die Arbeitskräfte für einen anderen Staat.
Und was die russische Sprache betrifft, muss betont werden: Hier geht es nicht um die Rechte nationaler Minderheiten. Es geht um das Erbe imperialer Politik, das überwunden werden muss.
Ich persönlich tue dies seit Dutzenden von Jahren mit meinen englischsprachigen Veröffentlichungen und Reden. Aber diese Bemühungen, wie auch die meiner Kollegen, sollten deutlich mehr sein.
Und es gibt auch einen Moment: Die Europäer müssen trotz unserer Bemühungen noch bereit sein, uns zuzuhören. Wenn sie uns nicht zuhören wollen, wenn sie unsere Argumente lächerlich finden, wie sie es vor 2022 oft getan haben, dann werden sie sie nicht lesen oder gar nicht veröffentlichen, egal wie klug die Artikel sind, die wir schreiben.
Der Krieg hat natürlich viel verändert, die Europäer reagieren jetzt viel sensibler auf unsere Argumente. Aber dann müssen wir daran arbeiten, arbeiten und arbeiten.
Ich möchte das Gespräch zu der inländischen Sprachpolitik wenden. Mir persönlich fehlt eine klare und für die ukrainische Bevölkerung verständliche Position der Politiker. Das heißt, was und welche sprachlichen Schritte unternimmt der Staat, um die ukrainische Sprache auf allen Ebenen zu popularisieren bzw. einzuführen? Wenn es vielleicht eine solche kommunizierte Politik für uns gäbe, würden wir vielleicht in Europa besser gehört? Wie bewerten Sie generell die staatliche Sprachpolitik?
Es kann nicht so sein, dass es keine Politik gibt. Das Fehlen aktiver Schritte, das Fehlen aktiver Veränderungen ist also auch eine Politik. Und gerade solche Politik haben die ukrainischen Behörden hauptsächlich jahrelang getrieben. Sie unterstützten die ukrainische Sprache sehr mild, mäßig, und in größerem Maße kümmerten sie sich darüber, dass die Menschen ihre „Haus-Sprache“, die sie wollten, gerne sprechen, was die Erhaltung der privilegierten Stellung der russischen Sprache bedeutete.
Diese Politik änderte sich nach 2014. Damals wurden die Bestimmungen des Kolesnitschenko-Kiwalow-Gesetzes (Kolesnitschenko und Kiwalow – damalige Parlamentsabgeordnete von der prorussischen Partei der Regionen – Red.), bekannt als KaKi-Gesetz, abgeschafft, mehrere neue Gesetze verabschiedet, Quoten und Sanktionen für deren Nichterfüllung verhängt. Schließlich führte das Sprachengesetz der Ukraine „Über die Gewährleistung des Funktionierens der ukrainischen Sprache als Staatssprache“ (2019) klare Normen, Sanktionen bei Nichteinhaltung ein und weitete die Priorität und Verpflichtung der Verwendung der ukrainischen Sprache vom öffentlichen Sektor auch auf den Dienstleistungssektor aus, was das Sprachmilieu für Millionen von Ukrainern wirklich verändert hatte.
Die staatliche Politik gegenüber der ukrainischen Sprache ist im Grunde genommen nicht schlecht. Schlecht ist die Kommunikation dieser Politik. Der Staat musste mit den Leuten sprechen und erklären, dass es bei der ukrainischen Sprache nicht nur um nationale Identität, Informationssicherheit und Gerechtigkeit geht. Stattdessen konzentrierte man sich damals wie heute hauptsächlich auf Bedrohungen aus Russland und die Notwendigkeit, die Informationssouveränität zu schützen. Und die Rechte der Sprecher und die Überwindung des imperialistischen russischen und russischsprachigen Erbes wurden kaum erwähnt. Aber es muss kommuniziert werden. Betonen.
Der Staat, die Behörden, die politischen Parteien und die Zivilgesellschaft kommunizieren die Sprachpolitik sehr schlecht. Und deshalb fühlen sich russischsprachige Menschen natürlich oft diskriminiert. Dies ist jedoch ein unvermeidlicher und schmerzhafter Prozess des Verlustes seiner Privilegien. Dieses Phänomen ist auf der ganzen Welt beschrieben und war in verschiedenen Ländern.
So war es auch mit Anglophonen in Quebec, mit Frankophonen in Belgien und mit Russischsprachigen in Lettland. Eine Gruppe, die an die völlige Dominanz ihrer Sprache gewöhnt ist, empfindet den Verlust dieses Status als Diskriminierung. Solche Gruppen haben sich seit Jahrhunderten daran gewöhnt, dass ihre Sprache absolut überall verwendet wird. Und wenn eine Gruppe, die tatsächlich diskriminiert wurde, beginnt, für ihre Rechte zu kämpfen und die Rechte ihrer Sprache durchzusetzen, nimmt die vorherrschende Gruppe diesen Privilegienverlust sehr schmerzhaft wahr.
Jetzt verstehen Russischsprachige natürlich mehr den Bedarf der Priorität der ukrainischen Sprache. Nach 2022 unterstützt die absolute Mehrheit die Normen des Sprachengesetzes, und mit diesem Verständnis gibt es kein Problem. Aber gleichzeitig sind Bürger auch meist träge Menschen. Besonders, wenn es nicht um ihren Komfort geht. Und gleichzeitig antworten sie, wenn sie an der Kasse auf Ukrainisch angesprochen werden, hauptsächlich auf Ukrainisch, und wenn auf Russisch, werden sie überwiegend auf Russisch sprechen. Und nur sehr wenige werden kämpfen.
Deshalb gibt es demokratische Normen, es gibt Unterstützung für diese Normen in der Gesellschaft, dann ist es eine Frage des politischen Willens.
Also zurück zum Anfang des Gesprächs: Wird Putin die Ukraine doch ukrainischsprachig machen?
Es gibt eine solche Tendenz. Wir wollen ukrainischsprachig sein, weil Putin uns als russischsprachig sehen möchte. Putin möchte, dass wir Russen werden, wir wollen Ukrainer sein. Und jetzt herrscht bei der überwiegenden Mehrheit der ukrainischen Bürger ein sehr klares Verstehen, dass Ukrainischsein bedeutet, ukrainischsprachig zu sein.
Zumindest öffentlich ist eine völlig neue Situation entstanden, die für die meisten westlichen Länder, insbesondere für die europäischen, typisch ist. Das heißt, Minderheiten verwenden ihre Sprache im privaten Raum und kommunizieren in der Öffentlichkeit in der Sprache der Mehrheit.
In postkolonialen Ländern ist das Gegenteil der Fall: Die Sprache des Imperiums herrscht im dem öffentlichen Raum. Und obwohl wir während des Krieges ziemlich viel Russisch hören, für meinen persönlichen Geschmack viel zu viel, sollte aber der Staat nicht in diesen, in den privaten Raum, eingreifen. Aber er muss unter allen Umständen für sein sprachliches Überleben sorgen.
Jaryna Skuratiwska, Kyjiw
Das erste Foto aus offenen Quellen