Mariupol. Flucht aus der Hölle. Meine Geschichte
Fortsetzung. Den ersten Teil lesen Sie hier!
... Drei Wochen sind vergangen, und ich glaube nicht mehr, dass es einmal ein anderes Leben gab. In diesem anderen Leben schliefen wir in Betten, aßen, bis es nicht mehr geht, und freuten uns über die Sonne, jetzt drücken wir uns abwechselnd auf Stühlen, zählen Maiskörner und beobachten, wie ein Feuerchen in einer Untertasse ausglimmt. Und zusammen mit ihm auch eine schwache Hoffnung. Ich bemitleide mich selbst, meine Verwandten und Menschen, die ich vorher nicht kannte. Ich sehe Olenka an, sie ist nicht traurig, und es wäre eine Schande für uns Erwachsene, zu ermatten.
Am 15. März wurde in Mariupol ein humanitärer Korridor geöffnet, die Menschen durften mit ihren Autos aus der Stadt fahren, aber niemand rief die Waffenruhe aus. Vier unserer Nachbarn retteten sich. Die Fahrt bis Melekino (ein Kurortsdorf zwischen Mariupol und der Belosarai-Nehrung) kostete zweitausend Dollar pro Person. Wir haben es nicht riskiert, unter Beschuss zur Garage zu rennen, und wir wussten nicht, ob das Auto ganz ist. Am Abend wurde im Radio berichtet, dass mehrere tausend Autos aus der Stadt fliehen konnten. Sofort verbreiteten sich Gerüchte über diejenigen, die es nicht geschafft hatten und auf die Landminen gefahren waren. Am selben Tag kam die Patin meiner Mutter in unseren Keller, ihr Haus wurde von Granaten getroffen, die Fensterscheiben in der Wohnung wurden zerbrochen und die halbe Küche war abgerissen. Sie vermummte sich in einen Schaffellmantel und wiederholte die ganze Zeit: „Wie warm hier ist, wie warm hier ist“, und Dampf kam aus ihrem Mund.
Die Zeit im Keller zieht sich sehr lange hin. Du wartest ständig auf den Tod, er scheint unvermeidlich. „Jeden Abend habe ich an die Decke geschaut und Gott gebeten, uns nicht unter den Trümmern zu begraben“, gestand mir meine Mutter später. Ich flehte, dass meine Arme und Beine bei mir bleiben, auf ihrem Platz.
Die Lebensmittel- und Wasservorräte gingen zur Ende, Olenka und ihre Brüder knabberten an rohen Kartoffeln und baten um etwas zu trinken. Nur einmal sah ich ihre Mutter weinen. In der Stadt fanden Straßenkämpfe statt, und die Front war über den Köpfen. „Ein oder zwei Tage und alles wird vorbei sein“, wiederholten wir als Mantra. Aber es wurde nur noch schlimmer. Wir wussten, dass die Kadyrowzy in die Stadt eingedrungen waren. Es gab Legenden über ihre Gräueltaten. Das Entbindungsheim, das Schauspielhaus und das Schwimmbad „Neptun“ waren bereits zerbombt. Mariupol wurde vom Himmel, Land und Wasser beschossen. Häuser wurden zertrümmert und in Siebe verwandelt. Wir beschlossen, zu fliehen.
„R.I.P. Mariupol“
Auf der Straße ist Totenstille. Ein gutes Zeichen. Der ganze Hof ist mit Granatsplittern übersät und mit Schichten aus Asche, Glas und Plastik bedeckt. In den Händen ist ein Sack von Kartoffeln mit den Resten des früheren Lebens und ein türkisfarbener Koffer. Wir warten auf andere. Langsam und mit Befürchtung kommen unsere verschlafenen Begleiter aus dem Luftschutzkeller heraus.
Ich erinnere mich, wie wir vor dem Weg einen Schluck Weihwasser tranken (mein Vater fand es auf wundersame Weise in den Ruinen unserer Wohnung). „Geht in einem gleichmäßigen Tempo, rennt nicht, Scharfschützen lauern“, wurde den Kindern erklärt. Zweifel stand in den Augen der Zurückgebliebenen: „Wohin? Wieso den? Ihr werdet es nicht schaffen.“ Aber wir entschieden uns zu gehen. Den Weg haben sie von den „Pionieren“ erfahren: Wir gingen zu „Metro“ (Großgeschäft – Red.) durch den Großmarkt und den Friedhof, das ist ein riesiger Schlenker, aber da haben sie nicht geschossen.
Ringsherum eine schlafende Stadt, verkohlte Häuser, behinderte Straßen. Keine Autos, keine Stimmen, kein Geräusch, nur leises Schluchzen. Tränen ersticken und brechen aus. „Dreht euch nicht um, nur nicht umdrehen“, flüstert jemand von hinten. „Aber ich wollte mich verabschieden“, entschuldigt sich die Mutter.
Die erhaltenen neunstöckigen Gebäude wurden von „Kadyrowzy“ bewacht. Unmenschen mit bärtigen Gesichtern wachten an den Eingängen und prüften misstrauisch unsere Dokumente. Olenka haben wir mit ihrer Familie in einem Privatsektor unterwegs gelassen. Die Kinder waren froh, dass sie zurückgekehrt waren, und ich sah das schiefe Haus mit einem Loch im Dach an und verstand nicht: „Wie werden sie leben?“. Der Abschied war kurz. Die Panzer waren bereits „erwacht“ und irgendwo in der Ferne hörte man schwere Explosionen.
Die Straße schien endlos zu sein, ich ging und murmelte die ganze Zeit in einem Zungenbrecher: „Rette und bewahre, rette und bewahre.“ Der Tod schien uns an Hacken zu hängen. Hinter schleifte ein Junge seinen Vater, der langsam starb. In der Nähe des Regionalkrankenhauses gab der Mann auf, fiel auf die Bank und bewegte sich nicht mehr.
„R.I.P. Mariupol“ - schrieb jemand mit dem Finger auf die staubige Scheibe eines kaputten Busses.
Befreier
Der Blick tausender Augen voller Hass und Verachtung richtete sich nach oben. Sie kommen - „Befreier“. Eine Panzerkolonne rollt langsam dahin und genießt jeden Meter der Straße. Orks sitzen stolz auf ihrer Rüstung und schauen ihre „Sklaven“ an. Gleich werden sie die Sperre öffnen und die hungrige Menge zur Futterkrippe lassen.
Sie eröffneten ihren Stab auf der Basis von „Metro“. Hier richteten sie das „Zentrum für Hilfe Einiges Russland“ ein, an den Pfosten hängten sie Trikoloren auf. Die Menschen in der Schlange quälten sie sieben Stunden lang, sie gaben altbackenes Brot, Graupen, Konserven und Wasser. Medikamente gesondert. Alles in Schachteln mit Z-Marke und der zynischen Aufschrift „Wir lassen unsere nicht zurück“. Eine Stimme aus dem Lautsprecher riet nachdrücklich, nach Rostow und Donezk zu fahren. „Wir bringen nicht in die Ukraine“, antwortete mir irgendein „Zärchen“ in Uniform.
Der Wind durchdrang meine Knochen, ich sah die Menschen an, sah aber nur Schatten. Sie bewegten sich, sprachen, kämpften für humanitäre Waren und weinten vor Verzweiflung. Und ich sah mich auch irgendwie von der Seite. Da trinke ich gierig aus einer von jemandem geworfenen Wasserflasche. Und weiter klammere ich mich an einen Sitz im Bus und stoße eine Frau mit einer Katze weg.
Wir beschlossen, nach Donezk zu fahren, von zwei Übeln wählten wir das kleinere. Aber auch hier wurden wir belogen. Die Busse legten 20 Kilometer zurück und hielten in Nikolske (ehemals Dorf Wolodarske), wie sich später herausstellte, zur Zwangsfilterung.
Filterung
Der Minibus „spuckte“ uns in der Nähe der lokalen Verwaltung aus und fuhr weiter eine neue Gruppe von Einwohnern von Mariupol zu holen. Verwirrt und mit Säcken behangen gingen wir langsam zur Schule, wo ein provisorisches Flüchtlingslager errichtet wurde. Die Menschen schliefen auf Tischen und auf dem Boden. Dort wurden auch Neuankömmlinge registriert, zur Filterung und Evakuierung angemeldet. Jeden Tag verließen Busse die Schule in Richtung Rostow und Taganrog.
Die Perspektive, die Nacht auf dem Boden zu verbringen, lockte nicht an. Es gab kein Hotel im Dorf. Ich rannte los, um bei den Einheimischen nach Übernachtung zu fragen. Der imaginäre Zauberwürfel in meinem Kopf konnte nicht gelöst werden: 20 Kilometer von der total zerstörten Stadt Mariupol entfernt lebten die Menschen ein friedliches Leben, werkelten in den Gärten, fuhren Fahrrad, gingen einkaufen. An den Krieg erinnerten lediglich Kreuze mit Klebeband an den Fenstern und weiße Bänder an den Zauntüren. „Die Tochter lebt in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand, die Fenster ihrer Wohnung waren zerbrochen, aber das Dorf ist ganz, die Panzer rollten an Mariupol vorbei“, erzählte mir der Anwohner von Nikolske Anatolij. Er war der einzige, der sich bereit erklärt hat, zu helfen und ihn zu einem Bekannten zu begleiten, der eine leere Wohnung hatte. „Wir sind schon zu 16 im Haus, in den ersten Tagen bin ich gefahren und habe Verwandte aus der Stadt geholt, dann war die Straße gesperrt“, erklärte der Mann unterwegs.
Im Dorf gab es kein Gas, uns wurde eine kalte Wohnung ohne Strom und Warmwasser angeboten. Wir haben sie doch nicht gemietet. Die Patin meiner Mutter erholte sich von dem Schock und erinnerte sich an die Verwandten des Mannes, die in Nikolske lebten und uns schließlich aufnahmen.
Ukrainische Verbindung funktionierte nicht, Banken und die Post waren geschlossen. Apotheken verkauften die Reste. In der ersten Woche fingen wir alle an, ohne Verschwörung krank zu werden, der feuchte Keller erinnerte uns daran. Überall waren verrückte Schlangen: für Medikamente, Brot, Zahnbürsten. „Kadyrowzy“, wie Kakerlaken, verteilten sich im Dorf, die Buchstaben Z klebten sie auf die gestohlenen Autos. Die Filterung wurde auf der Polizeistation durchgeführt. Gegenüber, im Gebäude des Gebetshauses, wurde eine Verkehrspolizeistation eröffnet. Jeder über 18 Jahre, unabhängig vom Geschlecht, wurde einer strengen Filterung unterzogen.
Die Leute warteten einen oder anderthalb Monate, bis sie an der Reihe waren. Ohne Filterpapiere warst du im „DNR“-Universum („DNR“ - selbsterklärte „Volksrepublik Donezk“ - Red.) eine Kellerassel. Um nach Mariupol zurückzukehren oder weiter zu fahren, musste jeder durch ein demütigendes Verfahren.
Vor der Filterung habe ich aus meinem Telefon alles entfernt, auf Englisch umgestellt, meinen Facebook-Account geschlossen, Messenger gelöscht, nur Instagram mit neutralen Fotos und Viber mit unbefangener Korrespondenz gelassen. Zur Filterung ging ich wie zum Galgen, jedes unvorsichtige Wort und man konnte als unzuverlässig gelten. Und das war ein direkter Weg zur Kolonie Oleniwska, einem echten Konzentrationslager: Folter, Toilette und Wasser einmal am Tag, keine Spaziergänge.
„Zieht die Oberbekleidung aus, lasst die Taschen und persönliche Sachen auf dem Kleiderbügel“, kommandierte eine „DNR“-Tante in Uniform. In einem kleinen Raum standen 5 Tische mit Fingerabdruck- und Handflächenscannern und Kameras auf Stativen in der Nähe. Ich gehorche nicht und zog meine leichte Jacke nicht aus, auf mich wurden sofort Flüche ausgestoßen, die der Anruf unerwartet unterbrach. Auf dem Display sah ich, dass die Dame, die über mich schimpfte, von ihrem „Liebling“ (und dazu noch mit einem roten Herzchen markiert) angerufen wurde, die Tante begann sich sanfter zu verhalten. Dann nahm sie schweigend meine Fingerabdrücke ab und fotografierte mich von vorne und im Profil. Die Atmosphäre im Büro war angespannt. Ich sah, wie die Finger eines erwachsenen Mannes vor Angst zitterten und seine Handflächen schwitzten, das Gerät ging immer wieder nicht an. Die Tante war wütend und griff nach seinen Fingern.
Danach wurde ich zum Verhör geschickt. In einem separaten Raum ohne Zeugen wurde ich bereits mit einem Blick gescannt. Ein Schlägertyp fragte, was ich arbeite, wie ich nach Mariupol gekommen bin, wo ich in 2014 gelebt habe, ob meine Verwandten in den Streitkräften Ukraine dienen, ob es Bekannte in „Asow“ (Regiment Asow - eines von mehreren Freiwilligenbataillonen, die im Ukraine-Konflikt seit 2014 gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes kämpfen) gibt und wie ich zum „Rechten Sektor“ (Prawyj Sektor - ukr. Eine rechtsextreme ukrainische politische Organisation – Red.) stehe. Er hat etwas auf das Formular geschrieben. Dann befahl er, das Telefon zu geben, und hat fünf Minuten lang gescrollt. Letztendlich gab er es zurück und zwang mich auf einem Stück Papier zu unterschreiben.
Ich verließ das Polizeigebäude mit einem weißen Zettel mit dem Stempel „Innenministerium von „DNR“ und dem Stempel „daktyloskopirt“.
„Guten Abend“
Während ich in Nikolske saß und auf die Filterung wartete, gingen meine Eltern als Rentner nach einem beschleunigten Verfahren durch (Frauen über 60 und Männer über 65 interessierten nicht die Orks). Sie durften das Dorf verlassen.
Beim Familienrat beschlossen wir, nach Mariupol zurückzukehren und zu schauen, ob das Auto nicht kaputt ist. Für eine Fahrt in die Stadt (nur Hinfahrt) nahmen die Taxifahrer nicht mehr und nicht weniger - tausend Hrywnja.
Zum Glück überlebte unsere „Mazda“ die Bombardierung, mit ihr fuhren wir zuerst in das besetzte Berdjansk und dann durch Melitopol in die berüchtigte Wasyliwka. Damals gab es keine „grünen“ Korridore mehr, wir reisten auf eigene Gefahr, wie Tausende von Menschen, die von der Besatzung fliehen wollten.
Auf dem zerstörten Parkplatz vor Wasyliwka bildeten sich Kolonnen je zehn Autos. Wir kamen früh am Morgen an, reihten uns aber schon in die 13. Kolonne ein. „Macht euch bereit, hier zu übernachten, gestern durften nur 70 Autos rein“, verblüffte uns eine junge Frau mit einem fünfjährigen Mädchen. Ich sah mich in alle Richtungen um: Mütter mit Kindern, Schwangere, Alte, Behinderte. Sie alle wurden Geiseln der Besatzer auf einem kleinen „Fleck“ vor Saporischschja.
Tagsüber gingen Tschetschenen mit automatischen Gewehren wie Pfauen zwischen den Autos umher und schauten in die Fenster. Bewohner benachbarter Dörfer brachten Kuchen, Wasser, Tee, Kaffee und Erdbeeren zum Parkplatz. Die Fährmänner sagten, dass man im April fünf Tage lang auf dem Parkplatz übernachtet hat, Zelte aufgestellt, um sich nicht im Auto zusammenzukauern, ein Feuer gemacht und gekocht.
Die Kolonnen durften erst abends fahren, von fünf bis acht fuhren höchstens 80 Autos durch. Fünf „offizielle“ Kolonnen und mehrere „Gaunerkolonnen“ (Gerüchten zufolge mussten die PKW ein Tausend Hrywnja zahlen, Busse – drei Tausend). Die Nacht verbrachten wir an einer Tankstelle. Wir versuchten, bei Kanonadegeräuschen zu schlafen, die Beschüsse hörten erst am Morgen auf, es gab kein Versteck. Nur Autos und ein sauberes Feld waren herum. Nach anderthalb Tagen des Wartens fuhr unsere Kolonne endlich in Richtung Saporischschja. Vor uns waren vier feindliche Checkpoints und die gefährlichste „graue“ Zone.
„Vater, woher kommst du?“, ein junger Mann mit russischem Akzent hielt uns am ersten Kontrollpunkt in Wasyliwka an. Der Vater erzählte, dass wir aus Mariupol fahren. „Aus Mariupol?“, ein klares Erstaunen im Gesicht. Er überprüfte das Auto nicht, ließ seine Augen über die Pässe gleiten und ließ uns fahren. Am Ende sympathisierte er noch (die höchste Stufe von Zynismus). Relativ locker fuhren wir durch drei weitere Kontrollen, sie prüften den Kofferraum, das Handschuhfach, öffneten wahllos und durchwühlten die Taschen. Am letzten Kontrollpunkt war ein Soldat noch ein paar Minuten lang mit meinem Handy beschäftigt.
Anfang März zerstörten die Besatzer im Raum von Kamjanske (ein Dorf in der Grauzone) eine Brücke über den Fluss. Von dort war es nur noch möglich, auf einer unbefestigten Straße nach Saporischschja zu fahren. Wir hatten Glück, es gab mehrere Tage keinen Regen, und die Straße wurde nicht weggespült. Wir fuhren vorsichtig, heimlich, niedrige Autos stießen mit ihrem „Bauch“ an Unebenheiten. Sobald wir die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, waren schon Explosionen zu hören. Das Dorf wurde mit schweren Waffen beschossen, wie durch ein Wunder erklommen wir einen Hügel und sahen den ersten ukrainischen Kontrollpunkt. Unsere Jungs, ganz jung, saßen in der Nähe des kaputten Hauses.
„Guten Abend“, hörten wir unsere Muttersprache. Wir verstanden, dass wir aus der Hölle geflüchtet sind und brachen in Tränen aus.
Sara Maksymowa
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