Kamjanka wählt das Leben

Kamjanka wählt das Leben

Ukrinform Nachrichten
Trotz Tausender von Minen kehren die Menschen in ein völlig zerstörtes Dorf in der Region Charkiw zurück

Ukrinform berichtete über die Tragödie von Kamjanka, das in der Nähe der Stadt Isjum liegt, als das Dorf noch unter der Kontrolle der Besatzer stand. Obwohl seit der Befreiung des Dorfes 11 Monate vergangen sind, tauchen immer wieder neue Beweise für die von den Besatzern begangenen Gräueltaten auf. Und doch kehren die Menschen allmählich in ihre zerstörten Häuser zurück. Bislang bitten die Kamjankaer um die vollständige Entminung der Siedlung, träumen davon, ihr Haus wiederaufzubauen und bitten die örtlichen Behörden um Aufmerksamkeit.

MEHR ALS 70 BEWOHNER VON KAMJANKA WURDEN GETÖTET

Vor dem Krieg war Kamjanka ein großes Dorf mit 1.200 Einwohnern. Sie wurden zur Flucht gezwungen und sind nun über die Ukraine und die ganze Welt verstreut. Die Menschen bleiben via Telefon und soziale Medien in Kontakt und versuchen immer noch, das Schicksal aller ihrer Dorfbewohner zu erfahren. Die Behörden haben keine offiziellen Statistiken über die Opferzahlen.

„Wir versuchen, sozusagen auf eigene Faust Buch zu führen. Zuerst hatten wir 28 Tote, dann 36, 39 ... Dann waren es 50. Aber jetzt liegt die Zahl bei 70 und mehr. Es gibt Menschen, die als vermisst gelten. Aber was bedeutet das eigentlich? Zuerst war eine Person am 23. März (letztes Jahr, – Anm. d. Red.) noch am Leben, sich in einem Keller versteckt hat, was durch Beweise belegt ist, und dann gibt es keine Informationen. Und seither ist mehr als ein Jahr vergangen. Natürlich verstehen wir, dass diese Menschen nicht mehr am Leben sind. Ich glaube, dass 8 bis 10 % der Bewohner unseres Dorfes getötet worden sind“, sagt Iryna Wosmeryk, eine Bewohnerin von Kamjanka.

Nach der Befreiung wurde das Dorf nicht vollständig untersucht.

„Wenn wir jetzt in allen Höfen nachsehen würden, würden wir in den Kellern noch mehr Leichen finden“, sagt Wosmeryk. „Die Besatzer wollten das Dorf völlig zerstören, alle Menschen töten. Die wenigen Überlebenden des 20. März 2022 sind nach Isjum gebracht worden. Die Leichen der Toten, sowohl der Zivilisten als auch unserer Soldaten, die bei den Kämpfen gestorben sind, sind fast sechs Monate lang unbegraben geblieben“, sagt Iryna.

Im März und April dieses Jahres wurden im Dorf 10 Leichen gefunden, dank der Hilfe von Verwandten oder Freunden der Opfer.

Die Leichen der gefallenen ukrainischen Verteidiger werden weiterhin entdeckt. Von Zeit zu Zeit arbeiten Sucher des Teams des Kommissars für Vermisste unter besonderen Umständen, der Black Tulip Mission, in dem Dorf. 

Sie werden von Vertretern der 95. Luftlandebrigade unterstützt, die hier im März heldenhaft und verzweifelt die Stellung hielt. 

In Kamjanka wurde bereits ein Massengrab unserer Soldaten entdeckt, aber die Einheimischen sagen, dass die Besatzer die Leichen sogar in den Fluss und den Teich warfen. 

DIE ANGREIFER HABEN NICHT NUR MENSCHEN GETÖTET

Die Gegend um das ehemals malerische Dorf ist heute durch Gräben, Unterstände, wo die Besatzer Möbel und anderes Eigentum von den Gehöften brachten, und Kaponnieren (eine Verteidigungsanlage am Boden eines Grabens, – Anm. d. Red.) verunstaltet.  Zahlreiche Nadelbaumplantagen am Dorfrand wurden niedergebrannt.

Nach der Besetzung wurde die Siedlung zu einem Standort, in dem 2.500 bis 3.000 russische Soldaten dauerhaft wohnten, berichten die Einwohner.

Zu Beginn des Krieges gab es im Dorf anderthalbhundert Kühe. Einige davon starben infolge des Beschusses, der Rest wurde zu Proviant. Die Eindringlinge töteten auch die Hunde.

„Die Besatzer haben in Saus und Braus gelebt, weil die Bewohner viele Rinder, Schweine und Geflügel gehalten haben. Die Tiere, die den Beschuss überlebten, sind geschlachtet worden. Mehrere Menschen, die im Dorf geblieben sind und überlebt haben, erzählen, dass die Russen manchmal eine Kuh geschlachtet haben, zwei Beine abnahmen und den Körper verrotten lassen haben, weil es genug zu essen gab. Und jetzt liegen überall Tierknochen herum. Die meisten Hunde sind auf der Stelle erschossen worden. Und die reinrassigen großen Hunde, die gebändigt waren, sind mit einem Lastwagen irgendwohin weggebracht worden. Wir denken über zwei Möglichkeiten: entweder zum Verkauf oder zum Verzehr, denn die Burjaten und Tuvaner essen sie“, sagt Iryna Wosmeryk.

Ihr zufolge misshandelten die betrunkenen Besatzer die Katzen auch: Sie zündeten ihre Pfoten an, brannten ihnen ein V-Symbol auf den Kopf und fügten ihnen einfach Wunden zu. In vielen Häusern fanden die Rückkehrer Bons und gebrauchte Spritzen.

Wie sie herausfand, lebten fünfzig Burjaten und Tuvaner im Haus von Wosmeryk, die das Haus in sechs Monaten in eine Müllhalde und eine Toilette verwandelten.

„Dank der freundlichen Menschen, die sich bereit erklärt haben, uns zu helfen, haben wir bereits 30 Kubikmeter Müll entfernt. Das sind 6 Tonnen. Und die gleiche Menge müssen wir noch entsorgen. Stellen Sie sich das nur vor! Und das ist das, was sie in jedem Hof hinterlassen haben“, sagt eine Anwohnerin.

Natürlich wurde auch jeder Haushalt ausgeraubt. Der Rest des Eigentums wurde von Ukrainern geplündert.

„Es ist eine Schande, das zu sagen, aber es ist eine bittere Wahrheit. Nach der Befreiung sind Bewohner aus den Nachbardörfern und sogar aus Slowjansk gekommen, um zu plündern. Sie haben ganze Ziegelsteine mitgenommen, Tore, Heizungsanlagen und Boilers herausgeschnitten. Es ist sehr traurig“, seufzt die Bewohnerin von Kamjanka.

DAS DORF MUSS WIEDERAUFGEBAUT WERDEN

Bislang ist die einzige vollständige Einrichtung im Dorf eine Bushaltestelle, die im Frühjahr von der regionalen Straßenbehörde eingerichtet wurde. In der Nähe der Bushaltestelle haben die Dorfbewohner die Reste der durch den Beschuss beschädigten Granaten und Bäume entfernt und Blumen gepflanzt.

Wie in vielen befreiten Dörfern haben die Bewohner ihre Gemüsegärten trotz der Gefahr für ihr Leben selbst von Minen befreit, damit sie im Mai Kartoffeln pflanzen können. Sie sammelten „Blütenblätter“ mit langen Keschern auf, und wenn sie ein ganzer Feuertopf oder eine Kiste voll hatten, riefen sie die Pioniere. Einige Bewohner wagten es sogar, die Munition selbst zu zünden.

In den letzten Monaten haben die Einwohner von Kamjanka kollektive Appelle an den Staatlichen Dienst für Notfallsituationen, die Regionalverwaltung, die regionalen Energieversorgungsunternehmen, die regionalen Gasunternehmen, das Ministerium für Umweltschutz und natürliche Ressourcen der Ukraine, den Umweltausschuss der Werchowna Rada und das Verteidigungsministerium geschickt. Die Menschen fordern, dass nicht nur bestimmte Bereiche, die mit der Infrastruktur verbunden sind, von explosiver Gegenstände geräumt werden, sondern das gesamte Gebiet und alle Haushalte. Dies würde die Rückkehr der Bewohner fördern.

Laut einer Antwort der Hauptabteilung für Minenräumung, Zivilschutz und Umweltsicherheit des Verteidigungsministeriums hat die Schweizerische Stiftung für Minenräumung im Juni und Juli mit einer nichttechnischen Untersuchung in der Siedlung begonnen. Bis zum 15. Juli wurden vier explosionsgefährdete Gebiete mit einer Gesamtfläche von 52 Hektar gefunden. Nach einer vollständigen Untersuchung werden die identifizierten Gebiete in die Liste der humanitären Minenräumungsaktivitäten aufgenommen. Ein Zeitrahmen wurde noch nicht festgelegt.  

In dem zerstörten Dorf leben jetzt mehr als 70 Menschen, und manche das Dorf auch besuchen. Nach Schätzungen der Dorfbewohner selbst planen mindestens 170 weitere Familien die Rückkehr.

Nach Angaben der Bewohner könnten 120 bis 130 der halbtausend Häuser in ihrem Dorf wieder aufgebaut werden. Und selbst diese Gebäude sind sehr stark beschädigt: Die Dächer wurden abgerissen, die Wände sind eingestürzt, und die Inneneinrichtung (Leitungen und Heizung) wurde vollständig zerstört. Außerdem wurde ein Großteil der Nebengebäude beschädigt. Der Rest der Häuser kann überhaupt nicht wiederaufgebaut werden, da nur noch ein Fundament und ein Stück Mauer übrig geblieben sind.

EINZIGARTIGE GEOLOGISCHE FUNDE SIND VERLOREN

Die Zerstörung von Kamjanka ist eine Tragödie für seine Bewohner. Aber es zeigt sich, dass es auch Verluste für Wissenschaftler gibt, denn das Gebiet von Isjum und Kamjanka ist Geologen seit 200 Jahren bekannt. Am Rande der Siedlung werden mesozoische Sedimente freigelegt.

Laut Andrij Matwejew, Professor am Lehrstuhl für Fundamental- und Angewandte Geologie an der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw, werden die Sedimente normalerweise in marine und kontinentale unterteilt, und in Kamjanka gibt es beides.

„Daher enthalten diese Sedimente die Überreste sowohl von alten Tieren als auch von alten Pflanzen. Das macht sie so interessant. Geologen der Universität Charkiw arbeiten dort seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch Kyjiwer Bürger und ausländische Forscher sind dorthin gekommen“, so der Professor.

Seit den 1970er Jahren ist Kamjanka ein ständiger Stützpunkt für geologische Arbeiten geworden. Später wurde auch ein Museum eingerichtet. Vor einigen Jahren begannen Experten, die Idee zu fördern, in der Region Charkiw einen Geopark zu schaffen, der Teil eines internationalen Netzwerks sein sollte.

„Es war die südliche Region Isjum, die wir vorgeschlagen haben. Die ersten Schritte sind auf der Ebene der regionalen Verwaltung unternommen worden. Aber der Krieg hat natürlich alles aufgeschoben. Aber das Schlimmste ist, dass das Museum zerstört worden ist, nur die Wände sind geblieben, und alles, was darin gesammelt worden ist, ist verloren gegangen. Und die interessantesten Gebiete, die sich entlang der Rinnen, Schluchten und Flussufer befinden, sind vermint, und es wird lange dauern, bis sie geräumt werden“, sagte Matwejew.

Ihm zufolge bewahrt das Museum Gesteinsproben aus der südlichen Isjum-Region und einzigartige Überreste von Meerestieren und -vegetation sowie Mineralienproben auf.

„Die Meeresfauna ist normalerweise mehr oder weniger weit verbreitet. Aber die Landflora ist sehr stark an bestimmte Gebiete gebunden. Wir haben Funde gemacht, die so genannt wurden: ,Kamjanka Flora‘ und ,Haraschiwka Flora‘, was bedeutet, dass es sich um einen Pflanzenkomplex handelt, der nur in diesem Gebiet gefunden worden ist. Das ist ein großer Verlust für die geologische Wissenschaft“, stellt der Professor fest.

DIE FRAGE DES WIEDERAUFBAUS IST SCHMERZHAFT UND OFFEN

Im Isjum-Region, in dem Kamjanka liegt, wurden fast 17.000 Objekte zerstört, darunter Mehrfamilien- und Privathäuser, wichtige Infrastruktur und Bildungseinrichtungen. Für die Behörden ist es schwierig, etwas Definitives über die Zukunft des einst blühenden Dorfes zu sagen. Oleh Synjehubow, Leiter der regionalen Militärverwaltung von Charkiw, stellt fest, dass es für jede Siedlung Wiederaufbaupläne gibt. Es ist aber nicht bekannt, wann sie umgesetzt werden. Derzeit müssen die Eigentümer von Privathäusern, die eine Entschädigung im Rahmen des eRecovery-Programms beantragt haben, auf die Entscheidungen der kommunalen Selbstverwaltung warten.

Stepan Masselskyj, Leiter der Militärverwaltung im Bezirk Isjum, sagt, dass es Zeit braucht, bis die Kommissionen die Häuser inspizieren. Ein noch größeres Problem ist jedoch das dichte Minenfeld in dem Gebiet, und die Pioniere haben die Räumung der Gebiete unter den Stromleitungen noch nicht abgeschlossen. Fast jede Woche werden Zivilisten auf den „Blütenblättern“ getreten.

„Es sind 21 Pionierteams in dem Gebiet im Einsatz. Aber eigentlich haben wir nicht genug Pioniere. Außerdem ist zu dieser Jahreszeit alles mit Unkraut überwuchert, was die Arbeit verlangsamt, weil sie gefährlicher ist“, sagt Masselskyj.

Er weist darauf hin, dass eine Einheit von DSNS-Spezialisten eingerichtet wurde, die dauerhaft im Bezirk Isjum arbeitet. Es werden Räumlichkeiten für die Unterbringung von Ausrüstung und Personal eingerichtet.

Auf die Frage nach den Aussichten für den Wiederaufbau in Siedlungen wie Kamjanka antwortet der Bezirksleiter traurig: „Um ehrlich zu sein, habe ich im Moment keine Antwort ... Heute erwägen wir, die Stromversorgung dort wiederherzustellen. Aber auch hier stoßen wir auf die Minenräumung“.

Im Gebiet gibt es ein Dutzend solcher völlig zerstörter Dörfer.

„Das größte von ihnen ist Kamjanka. Dowhenke, Topolske, Welyka Komyschuwacha, Sawody befinden sich in demselben Zustand. Dort gab es schreckliche Kämpfe. Mehr als sechs Monate lang ist die Frontlinie hindurchgegangen“, sagt der Bezirksleiter.

Nach Angaben von AG Charkiwoblenergo (regionales Energieversorgungsunternehmen) sind derzeit 21 Siedlungen im Bezirk Isjum ohne Strom. Die Geschwindigkeit der Reparaturarbeiten hängt von der Lage, der militärischen Situation, der Erlaubnis der Pioniere, der Verfügbarkeit der Bewohner und dem Ausmaß der Schäden ab. Die Wiederherstellung der Stromversorgung in Kamjanka steht „noch nicht auf der Tagesordnung“, sagt Oleksandr Kyschynskyj, stellvertretender technischer Direktor des Energieversorgungsunternehmens.  

Stepan Masselskyj hofft jedoch, dass bis September der Großteil der Wiederherstellungsarbeiten im Stromgebiet abgeschlossen sein wird und dann auch für Dörfer wie Kamjanka eine Lösung gefunden werden kann. Es ist aber wahrscheinlich, dass es in diesem Jahr keinen Strom geben wird.

„Unser Dorf ist von Raschisten in den sozialen Medien als ,Straße des Todes‘ bezeichnet worden. Aber nein! Kamjanka wählt das Leben. Wir wollen leben, wir wollen, dass unser Dorf wieder aufblüht. Wir bitten den Staat und die Behörden, uns beim Wiederaufbau und der Wiederbelebung zu helfen. Sonst werden die Russen als Sieger dastehen. Denn sie wollten uns zerstören, alles, was wir hatten“, sagt Iryna Wosmeryk.

Julija Bajratschna, Charkiw

Fotos von Andrij Dubtschak gemacht und von Iryna Wosmeryk und Andrij Matwejew zur Verfügung gestellt


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